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und urbane Mentalität soll durch entsprechende Durchläufe in den Körper-
schmerzkammern mitgeformt werden. Man trägt sportive Kleidung361 und jagt
mit Hilfe eines „geradezu mathematisch errechnete[n] Trainingsschema[s]“362
Rekorden hinterher; man verspricht sich durch „eisernes Training“363, in strikt
angenommener Kausalität allen Geschehens, „gerechten Lohn“364. In einem
populären Boxfachblatt findet sich 1923 ein Holperreim als Verhaltensanlei-
tung: „Weg mit allem Bücherknast“, so der Verfasser. „Meld’ dir an im Sport-
palast.“365 Vor diesem Ideenpanorama wird Boxen zu einem Ideal praktizierter
Körperschulung vereinfacht. Fordismus und Taylorismus erobern das Terrain
des Privaten, das durch Training und Trainingstheorie gegen ErschĂĽtterung ab-
gesichert werden soll. Der Körper wird zu einem „Objekt der Beherrschung“366
degradiert, die „totale Technifizierung“367 der Psyche erstrebt: Die Trainings-
praxis soll zu Selbstherrschaft und sensibilisierter Selbstwahrnehmung fĂĽhren,
die systematische Trainingsarbeit an Sandsack und mit Sparringpartner neue
Strategien der Lebensführung eröffnen368: Kraft- und Konditionssteigerung,
Nervenstärke und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Boxen, legt der belgi-
sche Schriftsteller Maurice Maeterlinck seinen Zeitgenossen den Sport drin-
gend nahe, lasse den Menschen inne werden, dass er, was den „Gebrauch [der]
Glieder, ihre Gewandtheit, Behendigkeit, Muskelkraft und Fähigkeit, Schmer-
zen zu ertragen“369, angehe, auf die „unterste Stufe der Säuglinge oder Frö-
sche“370 herabgesunken sei. Dabei gehen im Boxtraining Körperschulung und
psychische Optimierung eine offen sichtbare Fusion ein. Das EinĂĽben wird im
Regelfall von Körperprägevorrichtungen und monotonen Bewegungsabläufen
dominiert.371 Überlagert werden diese hoch ritualisierten Elemente des Körper-
umbaus von psychophysischem Wappnen in Form von Disziplin, Askese und
sozialer ZurĂĽckgezogenheit.372 Der Disziplinarparcours des Boxers fĂĽgt sich
aus performativen und psychophysischen Praktiken zusammen, aus dem „‚Stäh-
361 Vgl. Dierker et al. 1986, S. 174f
362 Hermand, Trommler 1988, S. 78
363 Landmann 1928, S. 150
364 Giese 1925, S. 46
365 Zit. n. Behrendt, 1990, S. 84
366 Becker 1993, S. 304
367 Ebd., S. 305
368 Vgl. Fleig 2008, S. 29f; Frank Becker analysiert die Korrespondenzen zwischen tayloristischer
Arbeitsorganisation und spezifischer Körperausbildung, vgl. Becker 1991, S. 210ff
369 Maeterlinck 1921, S. 115
370 Ebd.
371 Vgl. Liebling 2009, S. 44; Ellwanger 2008, S. 138; zu den diversen Boxtrainingsgeräten und
Trainingszielen, vgl. Job 2003, S. 182f
372 Vgl. Kohtes 1999, S. 98f; Reemtsma 1997, S. 77
88 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440