Page - 93 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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„Primitivität“396 und Figur öffentlichen Lebens, die sich im Widerstand zu den
Forderungen und Ansprüchen eines festgelegten Rollenverhaltens zeigt.
Modische Behelfe: Boxverhaltenslehren
Zahllose Anleitungen zum methodischen Erlernen des Boxens flankieren des-
halb auch den Boxsportboom der 1920er- und 1930er-Jahre – wobei sich die
Forderungen der Sportfibeln ab Hitlers Machtergreifung deutlich in Richtung
Wehrertüchtigung des Einzelnen wie der Allgemeinheit bewegen. Der Großteil
der Boxbreviere kann auf zwei Arten gelesen werden: als Körperformungsbehelf
mit didaktischem Instruktionscharakter – oder als Bewältigungsanleitung für die
Niederungen und Verwerfungen des Alltags. Ersterer ist kulturwissenschaftlich
nicht weiter von Belang; Letztere formiert sich als Interessensschwerpunkt. Um
1900 veröffentlicht der Wiener Schriftsteller Victor Silberer das Handbuch der
Athletik nebst einer Anleitung zum Boxen, in dem der Autor bedauert, dass Boxen
in Deutschland und Österreich „geradezu in Misscredit“397 stehe; dabei, so Sil-
berer, ließe sich durch Boxen zeigen, „was für ein grosses und wunderbares Stück
Mechanismus der Mensch doch in Wahrheit“398 sei. Boxen sei von „unend-
lichem Werthe, um die ernsten Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu über-
winden“399 – Schreiben über Boxen lässt sich hier noch als bloßes Staunen über
eine neue Sportart ausmachen. Rund zehn Jahre darauf bemerkt der anonyme
Verfasser der Anleitung Das Boxen, dass das Interesse an „dieser wertvollen Lei-
besübung“400 erwacht sei; direkt bezieht sich der Autor auf Silberers Handbuch,
dem seiner „erheblichen Breite“401 wegen der Zugang zu einem größeren Leser-
kreis verwehrt geblieben sei. Das Boxen beschränkt sich deshalb auch weitest-
gehend auf die Ausbuchstabierung der technischen Aspekte des Boxens – nicht
ohne den Hinweis zu platzieren, dass Boxen dem „Volk der Dichter und Den-
ker“402 gute Dienste leisten könne, da die Deutschen dem Körper nach wie vor
wenig Aufmerksamkeit zollten, diesem „wertvollen Gefäße der Seele“403. Boxen
hat sich als Sport etabliert und beginnt in die kulturellen Verhaltensmuster von
Nationalismus und Körperästhetik einzusickern. Bald publizieren auch Boxer
Bücher über ihr Metier. Der Schwergewichtler Otto Flint propagiert in Boxen
396 Fischer 2001, S. 98
397 Silberer o. J., S. 340
398 Ebd., S. 342
399 Ebd., S. 344
400 N. N. o. J.a, S. 3
401 Ebd., S. 4
402 Ebd., S. 59
403 Ebd. 93
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440