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bigen“254, hin zum, wie Hermann Sinsheimer in Box-Arena anmerkt, „Tempel-
chen des Boxringes“255. Die marktschreierische Stimme des Stadionsprechers
gibt die Losung vor: „Wehe den Gerichteten!“256 Den kampferschöpften Boxern
wird in Hans Natoneks Eloge Bruder Boxer profane Apotheose in Form eines
ritualisierten Säuberungsaktes zuteil:
Barmherzige Samariter stürzen nach jedem Kampfakt in den Ring, fächeln mit
hingebendem Eifer Kühlung, laben mit Essenzen, massieren die bebenden Flan-
ken, reichen Riechsalz und trocknen den Schweiß der Kämpfer, die mit ausgebrei-
teten Armen, wie gekreuzigt an den Seilen, sich ihren Pflegern überlassen. Sogar
aus einem – sehr natürlichen – Flakon werden sie, wie Blumen, angesprüht: Der
Samariter nimmt einen kräftigen Schluck Limonade, die er mit geblähten Backen
seinem Pflegebefohlenen ins Gesicht sprudelt. Und zum Schluß gießt er dem Ge-
schlagenen eine halbe Flasche Mineralwasser auf das erhitzte Haupt.257
Kirche, Glaube und Religion werden in der anbrechenden Epoche von Tech-
nik und Wissenschaft zu Begleiterscheinungen; Frank Becker geht in Amerika-
nismus in Weimar so weit, von der „Auflösung und Zerstörung“258 der sakralen
Sphäre in der Zeit der Weimarer Republik zu sprechen. Max Weber erteilt in
seinem Essay Wissenschaft als Beruf noch zu Beginn der 1920er-Jahre jenem
Zeitgenossen, der das „Schicksal der Zeit“259 nicht ertrage, den Ratschlag, sich
reumütig von der Großreligion Sport abzuwenden: „Er kehre lieber, schweigend,
ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach,
in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirche zurück.“260 In der
messianischen Gestalt des Boxers als halbnackter Matador in grellem Licht,
umstellt von tausendköpfiger Jüngerschaft, feiern Metaphysisches und Mysti-
sches in bizarrer Maskerade Wiederauferstehung.
Wie erwähnt, weist Boxen in den Jahren der Weimarer Epoche auch eine
Schlagseite ins ökonomische Kalkül auf, in dessen Mittelpunkt Geldprämien
und -erwerb stehen; das Kraftkörperkapitel eines Boxers ist unmittelbar und
direkt in ökonomischen Wert konvertierbar. In Anlehnung an Foucault sollte
dem Ökonomischen per se ein viel größerer Gestaltungsspielraum zuerkannt
werden, um die Verklammerung von diskursiven Elementen entsprechend zu
254 Gurk 1980, S. 303
255 Sinsheimer 1994, S. 232
256 Ebd., S. 234
257 Natonek 1994, S. 231
258 Becker 1993, S. 235
259 Weber 1951, S. 596
260 Ebd.
146 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440