Page - 166 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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In ihrem eigens abonnierten Boxfachblatt lesend, fragt sich Susanne:
Wie lebt ein Boxer? Lebt er keusch, um seine Kräfte zu schonen, wie Schnath
[Louis’ Sekretär, WP] gesagt hatte? Wenn dies so war, was zog denn diese Ber-
liner Schauspielerinnen und bekannte Lebedamen derart zu den Boxern? In die-
ser Nummer, die sie eben durchblättert hatte, war eine Photographie, die einen
berĂĽhmten amerikanischen Boxer beim Picknick mit zwei bekannten Schauspie-
lerinnen zeigte. Diese beiden Frauen, die bei ihrer finanziellen Unabhängigkeit
doch gewiß anspruchsvoll waren und gutes Aussehen oder Geist von den Männern
verlangten, muĂźten schlieĂźlich etwas anderes Anziehendes bei dem Boxer finden.
Denn dieser Mann war nichts als ein mächtiger Bulle; er sah weder schön noch
klug, ja geradezu unsympathisch aus. Es konnte doch nur das eine sein! 34
Louis vermutet, dass Susanne „Sportbegeisterung“35 heuchle: „Sie hat jeden
Sinn fĂĽr Schicklichkeit verloren, dachte er verzweifelt, und das ist nur der An-
fang ihrer Tollheit.“36 Für Louis ist Boxen eine „ganz plebejische Angelegen-
heit“37; es sei „überhaupt kein Sport, wenn Tausende zusähen, wie zwei sich
schlagen“38. Susanne entgegnet, dass Boxen „doch der beliebteste Sport deiner
Amerikaner“39 sei. Boxen wird noch weitestgehend als „Unkultur“40 eingestuft;
der Sport ist noch weit von seiner späteren Omnipräsenz entfernt. Als schritt-
weise Annäherung an das spezielle boxsportive Lebensgefühl der 1920er-Jahre
stellt Breitbachs Roman dennoch Handlungsmuster und Identifikationsfiguren
bereit, die den sozialhistorischen Zusammenhang zwischen Boxen und den
an den Sport angrenzenden Diskurs- und Praxisfeldern anklingen lassen. Die
Wandlung der Susanne Dasseldorf vermittelt Einblicke in Zusammenhänge, die
vom boxliterarischen Trivialroman mit seiner Emphase und seinem Pathos im
Regelfall perpetuiert werden. Mit Schnath, dem Sekretär ihres Bruders Louis,
besucht Susanne eine improvisierte Boxkampfveranstaltung, bei der auch ihr
heimlich verehrter (und von ihr erotisch begehrter) Peter in den Ring steigt;
Breitbach beschreibt das Ereignis in ernĂĽchternder Schonungslosigkeit:
Die Halle war ein groĂźer, primitiver Holzbau ohne richtige TribĂĽne. Der Ring
stand in der Mitte. Ein paar Reihen Gartenstühle bildeten die bessern Plätze rund
34 Breitbach 2006, S. 424 (Hervorh. im Orig.)
35 Ebd., S. 422
36 Ebd.
37 Ebd., S. 408
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Sigleur 1940, S. 109
166 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440