Page - 167 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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um den Ring herum, sonst gab es nur lange Holzbänke. Es war Platz für acht-
hundert Menschen. Über dem Ring war ein mächtiger Scheinwerfer angebracht.
Der Raum war, obwohl es noch hell genug gewesen wäre, grell erleuchtet. Auf den
Bänken saßen hier und da bereits ein paar Soldaten und einige junge Leute aus
dem Volk.. […]
Es war ungemütlich in dem leeren Raum. Susanne zog ihren dünnen Mantel fes-
ter um das Kleid und starrte nach dem Eingang. Die Leute bröckelten nur lang-
sam herein. Ein älterer Offizier setzte sich neben sie. Dann kam ein Leutnant mit
einem geschminkten Frauenzimmer. […]
Die Bänke waren fast ausschließlich von jungen Burschen und Soldaten mit Mäd-
chen aus dem Volk besetzt. Es ging dort laut und ungeniert zu. In den Stuhlreihen
saßen fast nur Offiziere. Viele mit sehr aufgetakelten Frauenzimmern, die sich in
aller Öffentlichkeit puderten und die Lippen schminkten. „Das ist ja eine illustre
Gesellschaft“, sagte sie. „Allerdings. Es ist wirklich sehr gemischt.“ Schnath war
etwas verlegen. „Der Boxsport ist eben in der Provinz noch nicht richtig durchge-
setzt“, sagte Susanne. 41
Im Roman werden mit Hilfe des Boxens erste Berührungspunkte zu anderen
Bedeutungsfeldern hergestellt; von der nahezu kritiklosen Verabsolutierung des
Boxens, die dem Sport späterhin enormen Bedeutungszuwachs verleihen wird,
ist das Wald-und-Wiesen-Boxen in Die Wandlung der Susanne Dasseldorf noch
Äonen entfernt:
Händeklatschen und Bravorufe waren noch nicht verebbt, da kletterten das erste
Kämpferpaar, der Schiedsrichter und die Masseurjungen durch die Seile. Der
Schiedsrichter nahm die beiden Kämpfer an der Hand und stellte sie vor. Sofort
brauste ein Beifallssturm durch die Halle. Die erste Runde des ersten Paars begann.
Susanne war jetzt sich selbst überlassen. Sie verstand nichts von den Kampfregeln.
Schnath mochte sie nicht fragen. Sie hatte sich ihm gegenüber ein klein wenig zu
fachmännisch aufgespielt. Allerdings hatte sie geglaubt, etwas aus ihrer Zeitschrift
gelernt zu haben. Sie kannte ja auch die Ausdrücke: Tiefschlag, Haken und so wei-
ter. Wie oft hatte sie es gelesen: Aber was nun ein Tiefschlag oder ein Haken war,
wußte sie doch nicht. Sie erriet nur jedesmal an dem ohrenbetäubenden Geschrei
der Zuschauer, daß an einem Schlag etwas Besonderes gewesen sein mußte.
Sie fing an sich zu langweilen. Das war ja ein ganz öder Sport. Schließlich verfolgte
sie die Schläge der Kämpfer überhaupt nicht mehr, und sie war sehr erstaunt, als
die neun Runden vorbei waren und ein „Unentschieden“ verkündet wurde.
41 Breitbach 2006, S. 481 167
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440