Page - 186 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Einem der Beamten kommt die rettende Idee: Er drückt Dempsey im Berliner
Hotel Adlon in einen der Lifte und entzieht so den Star seinen Verehrern. Der
Text bildet die Logik des öffentlichen Sportfanatismus restlos ab:
Der plötzliche Untergang des Meisters verursachte einen psychotischen Sturm sei-
ner Lieblinge auf die Stiege, und die Hälfte des Volkes blieb zertreten, Opfer der ei-
genen Begeisterung, dargebracht dem Ruhm Dempseys, mit gelegentlich zerfetzten
Kleidern auf den steinernen Stufen des Bahnhofs. Der andere Teil des Volkes hatte
sich vor dem Hotel Adlon versammelt. Überlebende vom Bahnhof Zoo schossen
wie abgefeuert in Automobile und flogen hinter dem Auto Dempseys her mit der
Rasanz von Maschinengewehrkugeln, bis sie unter den Linden einschlugen.158
Kampf und Konkurrenz, jene Komponenten, die hinter der komplexen Signatur
des Boxens am deutlichsten hervorschimmern, werden von Roth in dem Mitte
Februar 1924 in der Frankfurter Zeitung publizierten Text Der Bizeps auf dem Ka-
theder ebenfalls neu dimensioniert: Statt im Ring nach Sensation und Spektakel
zu suchen, positioniert sich Roth in Nähe eines Rednerpults, an dem der Boxer
gleichsam mit der Sprache in Streit gerät. Das eigentlich Spektakelhafte des Bo-
xens lässt sich durchaus auch fernab des Rings aufstöbern. In Der Bizeps auf dem
Katheder berichtet Roth über den Besuch eines Vortrags, zu dem der Ich-Bericht-
erstatter, mit „Vorurteilen beladen“159, unterwegs ist: „Unmoderner Humanist, der
ich bin, erwartete ich alles, was eingetroffen ist.“160 Der Augenzeuge fährt erstaunt
fort, dass die Aufregung über den Ausgang des Sechstagerennens nicht überwun-
den sei, und schon trete der „brühmteste [sic] Deutsche dieses Jahrhunderts, der
Boxer Hans Breitensträter, auf das Podium des Blüthnersaals, um einen Vortrag
zu halten. Der Titel hieß: ‚Wie ich ward und wie ich bin‘.“161 Der Reporter notiert:
Man beachte die rhythmische Getragenheit dieses Titels und ermesse an diesem
nur scheinbar äußeren Symptom, wie klassisch die Welt des Boxers bereits ge-
worden und wie sie beinahe in die Sphären des fünffüßigen Jambus hineinwächst.
Heute ist es noch der vierfüßige Trochäus, wie man sehen und hören kann, wenn
man den oben zitierten Vortragstitel skandiert. Morgen schon – wer weiß – werden
die Sportberichte in Hexametern erscheinen, wenn die Begeisterung des Bericht-
erstatters unversehens sich rhythmisch gestaltet.162
158 Ebd., S. 805f
159 Roth 1990a, S. 56
160 Ebd.
161 Ebd., S. 55 (Hervorh. im Orig.)
162 Ebd.
186 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440