Page - 194 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Gaston (zählt sie aus).
Professor Himmelhuber (traut seinen Augen nicht): Meine Tochter!
Anna Maria (mit gebrochener Stimme, verklärt): Ach, war das schön!
Gaston (wirft Ärztekittel und Brille ab, auf den vollständig perplexen Ochsenschwanz
los): Ah, hab’ ich dich! Saub’rer Patron! Elender Sadist! Ehebruch! Schändung von
Minderjährigen! Jetzt ruf’ ich deine Frau! […]
Professor Himmelhuber (sammelt seine Tochter vom FuĂźboden auf): UnglĂĽckliches
Kind! Ist das die junge Generation?
Anna Maria (legt ihr Kleid notdürftig an): Verzeih’, Papa, ich hab’ halt einen Kom-
plex.205
Die Praktiken des Boxens – Körpertechnisierung und Training – bündeln sich
mit den interdiskursiven Funktionen des Sports nicht zuletzt zu einer Kritik
der Lebensführung. In Nietzsche, die Genealogie, die Historie – unter diesem Titel
auch in den Schriften zu finden – bestimmt Foucault:
Der Leib – und alles, was damit zusammen hängt: Ernährung, Klima, Boden – ist
der Ort der Herkunft; auf dem Leib findet man die Stigmata vergangener Ereig-
nisse; aus ihm erwachsen die Begierden, Schwächen und Irrtümer; in ihm ver-
schlingen sie sich und kommen plötzlich zum Ausdruck, aber in ihm lösen sie sich
auch voneinander, geraten in Streit, bringen sich gegenseitig zum Verlöschen und
tragen ihren unüberwindlichen Konflikt aus. Der Leib: eine Fläche, auf dem [sic]
die Ereignisse sich einprägen (während die Sprache sie markiert und die Ideen sie
auflösen); Ort der Zersetzung des Ichs (dem er die Schimäre einer substantiellen
Einheit zu unterstellen versucht); ein Körper, der in ständigem Zerfall begriffen
ist.206
Der Leib, so Foucault weiter, werde von der Geschichte gleichsam durchdrun-
gen: Boxen verwandelt sich in einem regelrechten Spiegeltanz zu einem Aus-
druck des Daseins. Insofern kann Boxen auch als eine Enzyklopädie des So-
zialen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Die Idealisierung der
Boxerfigur appelliert nämlich an ein Daseinsempfinden vor brüchiger Epochen-
kulisse.207 Boxern wird die Fähigkeit zugestanden, lebenselementare Dynami-
ken kanalisieren und regulieren zu können, die in epochentypischer Metaphorik
als seelische Lavaströme begriffen werden, welche die äußere Form des Lebens
205 Ebd., S. 179f (Hervorh. im Orig.)
206 Foucault 2002, S. 174
207 Zur Lebensideologie, einer zentralen Signatur der Weimarer Mentalitätsgeschichte vgl. Lindner
1994, insbesondere S. 17, 119f, 125ff u. 143ff (Ăśberblick)
194 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440