Page - 198 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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chen“232: „Selbst ohne Kleidung ist er jemand.“233 Der Typus des modernen, in die
Prozesse von körperkultureller Technisierung und wirtschaftlicher Rationalisierung
eingebundenen Mannes, der in der Figur des Boxers Kontur erlangt, wird in der
elaborierteren Prosa des Pompösen und Monumentalen weitestgehend entledigt;
die Triumph-Titanen-Topoi, die sich durch weite Teile der Wirkungs- und Inter-
pretationsgeschichte des Boxens ziehen, werden nachgerade entsorgt, von Auto-
rinnen und Autoren, welche die Überbetonung des Körperlichen und der Kult um
den boxsportlich gestählten Leib tiefgreifend irritiert. Die Emphase unbedingter
körpertechnischer Avantgarde, mit der Boxen in das Weimarer Mentalitätsgebilde
eingeknüpft und berufsromantisch assoziiert ist, enthüllt diese Literatur als Spekta-
kel und Simulation: als Teil einer außerordentlichen Sportinszenierung wie als dis-
kursives Schaltelement jenes Mechanismus, der Boxen an das Versprechen koppelt,
durch Sport dem Daseinsgrund gleichsam näherzurücken.234 Der in Zeitungen und
Zeitschriften verbreiteten Mär von Sieg, Triumph und Aufstieg des Boxers wer-
den Darstellungen sportlicher Brutalisierung gegenübergestellt; das Auftreten der
Athleten wird von überspannten Mystizismen bereinigt, die ritualisierten Verhal-
tensweisen der Boxer erfahren kritische Ausdeutung. Boxen wird als Popularisie-
rungs- und Glorifizierungskraftakt erkennbar gemacht, dessen eigentlicher Zweck
ein fortlaufendes Forcieren von Oberflächenreizen ist; im kritischen Schreiben über
Boxen treffen sich die Fluchtlinien der Demaskierung und der Offenlegung von
Gemeinplätzen. Die weitestgehend unhinterfragt zugeschriebenen körperlichen
Eigenschaften von Boxern werden in literarisierte Athletenfiguren rückprojiziert,
die als Vertreter einer karikierten Körpershow erscheinen, von Pseudostilisierung
und körpermodelliertem Perfektionismus fast gänzlich befreit: Der Verklärung der
zu nachgerade heiligen Instrumenten geadelten Fäuste des Boxers wird argumenta-
tiv entgegengetreten; die Chimäre der Körpermessbarkeit aufgelöst. Die zum Mus-
kelrelief modellierten Körper der Boxer werden konsequent auf ihr eigentliches
„Handwerkszeug“235 reduziert. Die Karikatur des Körperlichen erzeugt ungeheure
Komik: „Die Ärmel laufen ohne Übergang plötzlich in zwei ganz überwältigende
Fäuste aus“236, staunt Joseph Roth in Der Boxer. „Ich sehe nur Fäuste. Eine Stimme
stellt die Fäuste vor. Sie heißen: Harry Schwarz. Die Fäuste bewegen sich nach
hinten, offenbar die Folge einer Verbeugung des unsichtbaren Menschen, den sie
232 Ebd., S. 207
233 Ebd., S. 208
234 Wolf-Dietrich Junghanns stellt die berechtigte Frage, inwiefern die „Bewunderung für Faust-
recht-Taktiken im 19. und 20. Jahrhundert mit Erlebnissen gesellschaftlicher Ohmacht, Orien-
tierungslosigkeit und Unsicherheit“ zusammenhängen, vgl. Junghanns 1997, S. 149
235 Michalczewski 2004, S. 8; vgl. ebd.: „Meine Hände sind mir heilig.“
236 Roth 1989a, S. 143
198 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440