Page - 210 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
übermütiges Spiel mit Fortschrittsattributen, Sportmanie und Körperkraftdün-
kel entgegen. Boxer absolvieren, bevor sie in den Ring treten, Schlag- und Lo-
ckerungsübungen. Serners Manifest lässt sich als Anspielung darauf lesen.
In Paragraf 304, der das Trainingsstück in Letzte Lockerung eröffnet, stellt
Serner apodiktisch fest: „Auch du wirst Höchstleistungen nur erzielen, wenn du
dich trainierst.“322 Serner schlägt daher folgende Übungen vor: „Mache mor-
gens und abends Leibesübungen, deren Zahl und Art von ihrer Wirkung auf
dich abhängen müssen. Sie sollen deinen Körper lediglich in voller Beweglich-
keit und Frische erhalten.“323 Den gravitätischen Ton seiner Paragrafen-Rheto-
rik durchkreuzt Serner aber schon im Folgesatz. „Betreibe nicht den kleinsten
Sport“, schreibt der Autor: „Er absorbiert zu viel und schleimt das Hirn ein.“324
Damit ist das Prinzip benannt, dem Serner in Letzte Lockerung folgt: Den Bild-
bereich Training überführt er nicht auf die Felder der Messbarkeiten, Normie-
rungen, Leistungsdirektiven und Körperveredelungsmethoden; Training dient
Serner vielmehr als ein Bindeglied lose verwobener Diskurskomplexe: Diäte-
tik und Disziplinierungsforderung; Leibesübung und Leistungsorientiertheit;
Kraftökonomie und Körpertechnologie. Serners Zeitgenossen, ständig mit der
Aufsplitterung von Politik, Wirtschaft und Kultur konfrontiert, wissen die An-
spielungen zu entziffern, die in der Trainingsfibel für Schattenboxer sichtbar
werden: „Stell dich oft vor einen Stehspiegel. Liebäugle mit dir. Agiere dich
dir vor“325, empfiehlt Letzte Lockerung. „Versuche, dich noch mehr für dich zu
begeistern. Lobe dich. Bewundere dich. Aber tadle dich auch.“326 Und Paragraf
323 rät:
Übe vor allem täglich dein Auge, indem du dich vor den Spiegel stellst. Dein Blick
muß lernen, still und schwer auf einem anderen zu liegen, sich rapid zu verschlei-
ern, zu stechen, zu klagen. Oder so viel Erfahrung und Wissen auszustrahlen, daß
dein Gegenüber dir erschüttert die Hand reicht.327
Sport als Körperverhaltensmuster hat für Serner ausgedient; die Ideale kollekti-
ver Sportlichkeit, die in dem Verlangen nach methodischer Lebensführung ihr
Echo finden, sind für den Autor nicht viel mehr als „Gelotter“328:
322 Serner 2007, S. 177
323 Ebd.
324 Ebd.
325 Ebd., S. 178
326 Ebd.
327 Ebd., S. 181
328 Ebd., S. 182
210 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440