Page - 211 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Der Unterschied zwischen virtuoser Verstellung und Echtheit ist unermeßlich
klein. Du kannst jene dir nur durch intensive Übung aneignen, durch die du wie-
derum die Fähigkeit ausbildest, Echtheit zu erkennen. Vermagst du es aber gele-
gentlich trotzdem nicht, so verzichte auf jede Verstellung (das große Gelotter!) und
sprich, was du nicht darstellen darfst.329
Nichtsdestotrotz konvergieren viele Hinweise in Letzte Lockerung signifikant
mit den Ratschlägen aus zeitgenössischen Boxlehrbüchern, die Theorie und
Praxis des Sports didaktisch aufzubereiten suchen. Die Direktiven 309, 315 und
316 enthalten etwa Diätvorschriften, die, suggeriert der Schriftsteller, eisern
einzuhalten seien: „Betrinke dich nie, auch wenn du nicht schwatzhaft wirst.
Der kleinste Rausch schadet deinem Gehirn mehr als zehn tolle Liebeswo-
chen.“330 Serner appeliert an den Trainierenden: „Sei niemals dopé!“331 Es seien
auch „Quantum und Qualität“332 der eingenommenen Mahlzeiten mit „größter
Genauigkeit“333 zu überwachen, gälte es doch, notiert Serner kasuistisch, „so
weit es dir möglich ist, regelmäßig“334 zu leben: „Meide gänzlich Teigwaren,
weißes Brot, Mehlspeisen, Tee und Bier und alle Bohnenarten. Iß wenig Fleisch
(nie fettes), aber viel Obst, Salate und grüne Gemüse.“335 Spätestens an dieser
Stelle stellt sich die Frage: Serner als Trainer? Keineswegs. Paragraf 320 stellt
sogleich jene Forderung auf, durch die jede Trainingswirkung schnell immu-
nisiert wird: „Von Zeit zu Zeit sind Exzesse nötig. Nach zwei Monaten unun-
terbrochener Regelmäßigkeit hat dein Körper es satt. Gib ihm einen kurzen,
aber heftigen Sturm.“336 Im Folgeartikel 321 heißt es: „Ein Schlemmermahl
oder eine hemmungslose Liebesraserei vermögen oft noch zu spornen, wenn die
Form deines Trainings schon verbraucht ist.“337 Letzte Lockerung folgt keinem
zeitgenössischen Trainingsprogramm, sondern entschleiert in der Maske des
Einfühlungsvermögens den repressiven Verbotscharakter des Coachings und
die damit einhergehenden Instruktionsversuche, das „Verhalten des Menschen
[…] von sichtbaren Instanzen und externen Regeln“338 steuern zu lassen: „Ißt
du weich gekochte Winterkartoffeln und gar noch zuviel davon“, rät Serner mit
329 Ebd., S. 181f
330 Ebd., S. 178
331 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
332 Ebd., S. 179
333 Ebd.
334 Ebd., S. 180
335 Ebd., S. 179 (Hervorh. im Orig.)
336 Ebd., S. 180
337 Ebd.
338 Lethen 1994, S. 29 211
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440