Page - 214 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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fliegenden Brauen; hier ist die Abwehr eines falschen denkerischen Singularismus
(Weltkrieg!) zu prĂ€gnanter Ausdruckslosigkeit erstarrt;Â
das Göttliche flieht unver-
folgbar in die SchlĂ€fen zurĂŒck.â350 Egon Erwin Kisch indes kleidet im Feuilleton
Der gefunkte FuĂball das massenhafte Menschenaufkommen bei Sportveranstal-
tungen in ein Bild steigender Bedrohung. Die âVorpatrouille einer unabsehbaren
Armeeâ351, so der Reporter und Schriftsteller, befinde sich hier im Anmarsch.
âDeutsch sein heiĂt schlaflos sein, in den NĂ€chten, in denen in Amerika geboxt
wirdâ352, mobilisiert auch Joseph Roth im Feuilleton Ursachen der Schlaflosigkeit im
Goethe-Jahr sein Misstrauen gegenĂŒber der Parallelisierung von Boxen und Nati-
onaldenken, in dem Roth das Ringen Max Schmelings mit dem US-amerikani-
schen Boxer Jack Sharkey kommentiert; das Duell findet in den USA statt und
wird live im Radio ĂŒbertragen; die ganze Nation versammelt sich vor den GerĂ€ten.
Eine Notiz in einer Boulevardzeitung wird, wie so oft bei Roth, zum Anlassfall
seines Schreibens: âAm Abend vor dem Box-Match Schmeling â Sharkey schrieb
ein Schreiber im Berliner Lokal-Anzeiger:Â
âDer ist kein Deutscher, der heute nacht
ruhig in seinem Bett schlĂ€ft, wĂ€hrend unser Max Schmeling â in den Ring tritt.â
Deutsch sein heiĂt schlaflos sein, in den NĂ€chten, in denen in Amerika geboxt
wird.â353 Roth rĂŒckt Boxen in einem nĂ€chsten Schritt in die NĂ€he des Politischen,
Metaphysischen und Anthropologischen und macht den Sport damit als ein PhÀ-
nomen patriotischer Projektionen sichtbar: âUm zu erfahren, wer ein Deutscher
ist â ein âProblemâ, das die innere deutsche Politik bekanntlich seit zwei Jahren
bestimmt â, braucht man nur zu wissen, wer in der Boxnacht geschlafen und wer
gewacht hatâ354, bricht Roth, politisch hellsichtig, den nationalen Chauvinismus
ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung als Konglomerat heimatverbundener Ideen
formelhaft herunter: âSchollenfremde, Vaterlandslose und Juden sinken, wie man
jetzt weiĂ, an BoxnĂ€chten in tiefsten Schlaf. Daran erkennt man sie endlich.â355
In diskursiven Spiralen, die sich immer mehr ineinanderdrehen, karikiert Roth auf
dem Umweg des Nationalistischen in Ursachen der Schlaflosigkeit im Goethe-Jahr
ferner die duale Semantik der Körper-Geist-Tradition. Nach Ansicht des Lo-
kal-Anzeiger-Schreibers, zitiert Roth eine weitere Belegstelle,
âmĂŒssen sich unsere Herzen mit aller Kraft des Glaubens ⊠dagegen strĂ€ubenâ, weil
âdas bei der Gewalt des Seelischen ĂŒber das Materielle viel vermagâ. Die Tatsache, âdaĂ
350 Ebd., S. 72
351 Kisch 1993c, S. 261
352 Roth 1991b, S. 413
353 Ebd.
354 Ebd.
355 Ebd.
214 | Teilï»ż
II.ï»ż
Imï»ż
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂŒberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂŒckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und NebenschauplÀtze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten ErzÀhlliteratur 160
- âZeitfigurâ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440