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fliegenden Brauen; hier ist die Abwehr eines falschen denkerischen Singularismus
(Weltkrieg!) zu prägnanter Ausdruckslosigkeit erstarrt;
das Göttliche flieht unver-
folgbar in die Schläfen zurück.“350 Egon Erwin Kisch indes kleidet im Feuilleton
Der gefunkte Fußball das massenhafte Menschenaufkommen bei Sportveranstal-
tungen in ein Bild steigender Bedrohung. Die „Vorpatrouille einer unabsehbaren
Armee“351, so der Reporter und Schriftsteller, befinde sich hier im Anmarsch.
„Deutsch sein heißt schlaflos sein, in den Nächten, in denen in Amerika geboxt
wird“352, mobilisiert auch Joseph Roth im Feuilleton Ursachen der Schlaflosigkeit im
Goethe-Jahr sein Misstrauen gegenüber der Parallelisierung von Boxen und Nati-
onaldenken, in dem Roth das Ringen Max Schmelings mit dem US-amerikani-
schen Boxer Jack Sharkey kommentiert; das Duell findet in den USA statt und
wird live im Radio übertragen; die ganze Nation versammelt sich vor den Geräten.
Eine Notiz in einer Boulevardzeitung wird, wie so oft bei Roth, zum Anlassfall
seines Schreibens: „Am Abend vor dem Box-Match Schmeling – Sharkey schrieb
ein Schreiber im Berliner Lokal-Anzeiger:
‚Der ist kein Deutscher, der heute nacht
ruhig in seinem Bett schläft, während unser Max Schmeling – in den Ring tritt.‘
Deutsch sein heißt schlaflos sein, in den Nächten, in denen in Amerika geboxt
wird.“353 Roth rückt Boxen in einem nächsten Schritt in die Nähe des Politischen,
Metaphysischen und Anthropologischen und macht den Sport damit als ein Phä-
nomen patriotischer Projektionen sichtbar: „Um zu erfahren, wer ein Deutscher
ist – ein ‚Problem‘, das die innere deutsche Politik bekanntlich seit zwei Jahren
bestimmt –, braucht man nur zu wissen, wer in der Boxnacht geschlafen und wer
gewacht hat“354, bricht Roth, politisch hellsichtig, den nationalen Chauvinismus
ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung als Konglomerat heimatverbundener Ideen
formelhaft herunter: „Schollenfremde, Vaterlandslose und Juden sinken, wie man
jetzt weiß, an Boxnächten in tiefsten Schlaf. Daran erkennt man sie endlich.“355
In diskursiven Spiralen, die sich immer mehr ineinanderdrehen, karikiert Roth auf
dem Umweg des Nationalistischen in Ursachen der Schlaflosigkeit im Goethe-Jahr
ferner die duale Semantik der Körper-Geist-Tradition. Nach Ansicht des Lo-
kal-Anzeiger-Schreibers, zitiert Roth eine weitere Belegstelle,
„müssen sich unsere Herzen mit aller Kraft des Glaubens … dagegen sträuben“, weil
„das bei der Gewalt des Seelischen über das Materielle viel vermag“. Die Tatsache, „daß
350 Ebd., S. 72
351 Kisch 1993c, S. 261
352 Roth 1991b, S. 413
353 Ebd.
354 Ebd.
355 Ebd.
214 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440