Seite - 237 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Erstens vergeßt nicht, kommt das Fressen
Zweitens kommt der Liebesakt
Drittens das Boxen nicht vergessen
„Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen
Kaum ein anderer deutschsprachiger Autor hat dem Boxen in Werk und Bio-
grafie einen so breiten Raum gewährt wie Bertolt Brecht. Das Gros der kultur-
wissenschaftlichen Forschung zu Brechts Texten zum Boxen stützt sich aller-
dings auf die Analyse einer schmalen Auswahl dieser „kleinen Geschichten“1,
die um 1926 entstanden sind. Das mag auch daran liegen, dass die Erzählung
Der Kinnhaken und das Gedicht Gedenktafel für 12 Weltmeister die einzigen aus-
schließlich dem Boxen gewidmeten Arbeiten Brechts sind, die keinen Bruch-
stückcharakter aufweisen; in seinen Schriften thematisiert der Autor das Thema
Sport in essayistischer Form, oft am Rande oder als Anlassfall. Dennoch wird
Brechts Nähe zum Boxen nahezu inflationär herbeizitiert. Vergessen wird dabei
das Bemühen des Autors, den Sport im Diskursnetz der Weimarer Mentalitä-
ten und Lebensverhältnisse zu verankern – und die Rückspiegelungen dieses
Kopplungsverhältnisses in der Erzählliteratur als einer der wenigen Autoren
seiner Zeit ausführlich zu dokumentieren. „Wenn man etwas über sein eigenes
Leben aufschreiben soll“, legt Brecht als Biograf den Sachverhalt dem Boxer
Samson-Körner in den Mund, „ist es wirklich schwierig, alles unter einen Hut
zu bringen.“2 Brecht etabliert den Boxer nach einem Wort Robert Musils in
dessen Arbeitsheft 9 als eine „Zeitfigur“3: Der Sportler erscheint als „[k]ompri-
mierter Ausdruck des heutigen Menschen“4. Dabei faszinieren Brecht sowohl
die atavistischen Formen der Selbstsouveränität, die mit Boxen einhergehen, als
auch jene Diskursstrategien und Wissensformen, die sich das Phänomen mit
dem Theatralischen und Performativen teilt. Am Boxen war Brecht nicht allein
auf literarischer Ebene interessiert: Nach eigener Aussage in Bei Durchsicht mei-
ner ersten Stücke beginnt er sich nach 1920 verstärkt mit Sport zu beschäftigen,
wobei ihm „besonders der Boxsport […] Spaß bereitete“5. Mitte der 1920er-
Jahre, vor dem Hintergrund sportlicher Kommerzialisierung und Athletenhe-
roisierung, intensiviert sich Brechts Beschäftigung mit dem Boxen. 1926 ent-
1 Mittenzwei 1987a, S. 235
2 Ebd., S. 216
3 Musil 1976a, S. 426
4 Musil 1976a, S. 903
5 Brecht 1993a, S. 242
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440