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die irgendwie einzige Religion.“360 Die diagnostizierte „Gottlosigkeit der Welt“361
wird in den Textkorpora des elaborierteren boxliterarischen Schreibens dennoch
nicht zelebriert. Einerseits dient Religion in diskursivem Brückenschlag als Pa-
rodie auf den grassierenden boxsportlichen Askese- und Körperfanatismus; die
Gestalt des Boxers sei, so Kuh in Wie schreibt man über einen Boxer?, „restlose Ab-
kehr von der Physiognomik eines Geschlechtes, das von seinem Helden noch in
dichterischen Wendungen sprach wie: ‚Er berührt mit seinem Scheitel die Sterne‘,
oder: ‚Er hält mit den Göttern Zwiesprache.‘“362 Andererseits ermöglicht der pa-
noptische Blick auf die divergierenden Bereiche von Boxen und Religion die auf-
schlüsselnde Darstellung jenes tagespolitischen Segments, das vor dem Hinter-
grund der kollektiven boxsportlichen Verzückung einer fixen Idee gleichkommt.
Roths gedankliche Schlussfolgerungen über das „überraschende Titelbild“363 ei-
ner „illustrierte[n] Wochenbeilage“364, auf dem ein „katholischer Priester in lan-
ger Soutane“365 mit Boxtrainingsball abgebildet ist, verhaken in Der Boxer in der
Soutane zwei Diskurse ineinander, die in der Kausalitätskette des Kämpfens für
gewöhnlich polare Enden bilden: Seelenheil und Prügelei; die Bilder des Religiö-
sen punktieren in Der Boxer in der Soutane jene des Boxens:
Deutlich verrieten die ehrwürdigen Falten der Soutane die kampflustige Stellung
der Beine, deren eines vorgestreckt war, wie es sich gehört, wenn man boxen will.
Auch das Angesicht des jungen Priesters konnte keineswegs als friedfertig be-
zeichnet werden. Vielmehr drückte es jene gespannte Entschlossenheit aus, welche
die landläufigen Physiognomien unserer sportgeübten jungen Männer bildet und
die, nebenbei gesagt, allmählich die harmlosen Gesichter aller unserer Zeitgenos-
sen zu einer Art von Charakterköpfen zu verwandeln anfängt.366
Roth erweist sich einmal mehr als ein Beobachter auf Distanz, der mit schnel-
lem Blick signifikante Details zum Boxen ermittelt:
Es war ein bitterer, wenn auch verblüffend-erheiternder Ernst, aus dem sehr leicht
ein blutiger geworden wäre, wenn der Priester statt eines Trainingsballes einen
lebendigen Gegner vor sich gehabt hätte […]: Denn was ein rechter Boxer ist, der
gibt sich auf die Dauer mit einem Ball nicht zufrieden.367
360 Uzarski 1930, S. 18
361 Becker 1993, S. 234
362 Kuh 1963, S. 71
363 Roth 1991c, S. 185
364 Ebd.
365 Ebd.
366 Ebd.
367 Ebd., S. 186
216 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440