Page - 230 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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„Die Frage ist: […] Schinderhannes und Schopenhauer, um zwei Polaritäten zu
benennen – oder Laotse und Lihungtschang?[470] Schnaps oder Opium? Wem ge-
hört die Zukunft, die Ewigkeit heißen wird? Meine Muskeln sind gestählt. Ich bin
trainiert. Ich habe Laotse gelesen. Mit seinen eigenen Waffen will ich ihn schlagen,
den Gelben. Ich berste vor Zeugungskraft. Verantwortung strafft mich. Schon hör
ich sie singen, die Champions von Gleiwitz, Nancy, Warschau, Czernowitz, Malmö
und Napoli[471]: ave Caesar, morituri te salutant […].“472
Klabund fügt Boxen in Argumentationsmuster ein, die von den Zeitgenossen
leicht zu entschlüsseln sind, und inkorporiert Akzentverlagerungen zum Ko-
mischen und Karikierenden hin, die in schroffer Antithetik zu Heldentum und
Kraftmeierei stehen. Der Gelbe habe zuvor den französischen Weltmeister
Georges Carpentier in sieben Minuten besiegt, er, Munk, sei deshalb angehal-
ten, die „Schande der weißen Rasse“473 zu rächen: „Nun gilt es, alle Kräfte zu
sammeln. Keine Abschweifung.“474 Munks Überlegungen durchlaufen nicht die
langen Wege des Zögerns und Zweifelns. Beim Boxen seien „Faust und Blut
und Herz […] eins“475, eine „Angelegenheit der egozentralen Weltanschauung.
Ich oder du, heißt’s hier. Nicht:Â
ich und du.“476 Vor Beginn des Duells erscheint
unvermutet Munks Sohn in der Umkleidekabine. Christian will seinen Vater
davon abhalten, in den Ring zu steigen: „Vater – ich beschwöre dich – was tust
du – er wird dich zerschmettern.“477 Das Zusammentreffen von Sohn und Va-
ter, der seinen Spross anfänglich nicht erkennt („Wer ist das Jüngelchen?“478),
mündet in die kuriose Verkehrung der Problematik vom verlorenen Sohn – und
in die sentimental-melodramatische Klage eines Virtuosen der Selbststilisie-
rung und Härteposen-Clowns. „Was willst du, Sohn?‘ Monatelang kümmerst
du dich nicht um mich –“479, echauffiert sich Munk. Christian beteuert: „‚Dein
Bild hängt über meinem Bett. Gottvater weiß es.‘“ 480 Die Unterhaltung driftet
470 Laotse (6. Jh. v. Chr.), chinesischer Philosoph; Lihungtschang (zeitgemäße Schreibweise: Li
Hongzhang) (1823–1901), chinesischer Staatsmann, federführend im sogenannten Boxerauf-
stand Ende des 19. Jahrhunderts
471 Gleiwitz, Nancy, Warschau, Czernowitz, Malmö und Napoli: nicht ermittelt
472 Klabund 1922, S. 128
473 Ebd., S. 129
474 Ebd.
475 Ebd., S. 128
476 Ebd., S. 129
477 Ebd.
478 Ebd
479 Ebd.
480 Ebd., S. 130
230 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440