Page - 235 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 235 -
Text of the Page - 235 -
einer Million“509 ausgezählter Boxer verbuchen kann, flüchtet sich ins Kasuis-
tische:
„Oh nein!“ lächelte weise der Greis. „Denn höre: wäret ihr gleich, kämet ihr beide
– oder auch: es würde mich Vetter Kinnhaken rufen um den unglücklicheren aus-
zuzählen. So aber seh ich:Â
leider hat dein Bruder recht:Â
denn wäre er nicht der stär-
kere, kämst du auch nicht zu mir. Doch, wie ich euch kenne –“ und da verbeugte er
sich leicht – „hast sicher du den besseren Charakter!“510
Magenschwinger-links, ganz Relikt seiner Zeit, beginnt seinen Bruder darauf
grundlos mit Verachtung zu strafen. „Jedoch eines Morgens stellte ihn dieser
ob seines blöden Benehmens, das sich ein Mann in der Stellung eines Magen-
schwingers-rechts unmöglich […] gefallen lassen durfte.“511 Horváth suspen-
diert die durch die Märchenform vorgegebene Berechenbarkeit der Erzählung,
jene teleologische Form, die zahllose Texte zum Boxen blindlings imitieren. In
Die beiden Magenschwinger steigert der Autor die boxideologische Entlarvung
von Satz zu Satz; an die Stelle leerer Affirmation tritt die Kenntlichmachung der
engen Bewusstseinshorizonte von Boxer und Boxfangemeinde. Magenschwin-
ger-links erweist sich jedenfalls als ein unbelehrbarer JĂĽnger des Irrationalismus:
Nachdem Magenschwinger-rechts „ihm mit der unbehandschuhten Faust ei-
nige blaugrĂĽne Flecken beigebracht hatte, war Magenschwinger-links nicht nur
mehr davon fest ĂĽberzeugt, daĂź er selbst der weitaus bessere, sondern auch, daĂź
sein Bruder der Magenschwinger-rechts ein richtiger Verbrecher ist“512.
Die elaboriertere Literatur präsentiert, wie soeben dargelegt, Boxhelden im
Niedergang. Die Figur des Boxers wird aus der kulturellen Gemengelage der
Epoche als eine grundsätzlich negativ konnotierte, zuweilen mit erzählerischer
Ironie veranschaulichte Grundgestalt herausgelöst. Aktionismus und Attraktion
des Boxens tendieren ebenfalls oft ins Negative. Die Athletik als spezifischer
Ausdruck des Umgangs mit Körper, Kraft und Konfrontation gerät in den Mit-
telpunkt einer ablehnenden Aufmerksamkeit – entwickelt durch diskursive Brü-
ckenschläge, welche die Kritik am Boxen erst konturieren: „Wer den Gegnern,
wie sie davonhumpelten, noch nachsah, muĂźte bemerken, daĂź es nicht darauf
ankam, ob einer geschickt oder ein Riese war“513, bemerkt Heinrich Mann in
Die große Sache. „Er mochte jede Chance wahrnehmen oder blind und furchtbar
509 Horváth 1988e, S. 46
510 Ebd.
511 Ebd.
512 Ebd., S. 46f
513 Mann 1972, S. 151 235
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440