Page - 243 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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an. In listiger Wendung koppelt Brecht den Komplex des Boxens endlich an das
Konzept der Belohnung: das Hauen und Schlagen als „Stimmungsbarometer
oder Ablassventil für gute Laune“36.
Brecht steckt in Das Renommee, Das Elefantenkalb, Gedenktafel für zwölf Welt-
meister, Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda und in Der Kinnhaken und Der
Lebenslauf des Boxers Samson-Körner erzählt von ihm selber, aufgeschrieben von Bert
Brecht sowie in Essays und Skizzen wie Die Krise des Sportes und Das Theater als
sportliche Anstalt diskursive Felder ab, auf denen er den Status quo des Faustsports
zu klären sucht. Ökonomische und soziale Zusammenhänge spielen dabei ebenso
eine Rolle wie Epochenpsychologie und die „sozialpsychologische Dimension“37.
Brecht arbeitet sich mit Hilfe des Boxens nicht vorrangig an von Muskeln gebläh-
ten Körpern der Athleten ab, sondern an der Erweiterung des epochenspezifischen
Verständnishorizonts. Dem Sport belässt er zugleich seine opalisierend-spekta-
kelhafte Wirkkraft; im Gegensatz zum kollektivistischen Box-Euphorie-Axiom
entzieht er den Duellkampf simpler Bewertung. Er rückt nicht die Tätigkeit des
Boxens in den Vordergrund, sondern jene „Mechanismen der Gesellschaft“ 38,
die beim Boxen „am offenkundigsten wirken“39. Der Boxer erscheint nicht mehr
süchtig nach seinem Sport, nicht mehr wie der Hamster nach dem Rad. Brechts
Literatur über das Boxen bildet in Foucaultscher Terminologie jenes Netz von
Differenzen aus, „dessen verschiedene Punkte gleichen Abstand von ihren jewei-
ligen Nachbarn haben und sich im Verhältnis zu allen Übrigen in einem Raum
befinden, der sie zugleich aufnimmt und voneinander trennt“40.
1.
Brechts
Denkprogramm:
Boxen
Brecht operiert mit einem nach unterschiedlichen Richtungen hin offenen Sport-
begriff. Den Kauf und das Lenken eines Automobils – in den 1920er-Jahren das
mit industrialisierter Moderne schlechthin assoziierte Fortbewegungsvehikel –
nimmt Brecht selbstredend sportiv in Angriff41; 1926 nominiert „das Enfant ter-
rible“42 in einer Umfrage zum besten Buch des Jahres die Autobiografie Wie ich
um die Welt schwamm des schwedischen Schwimmidols Claes Arne Borg43, und
36 Witt 1996, S. 206
37 Müller 1980, S. 76
38 Meinhardt 1996, S. 135
39 Ebd.
40 Foucault 2001, S. 672
41 Vgl. Witt 1996, S. 211; Schütz 1986, S. 17
42 Schütz 1986, S. 17
43 Vgl. Brecht 1992j, S. 176 243
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440