Page - 250 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 250 -
Text of the Page - 250 -
doch, daĂź er Bantam war? Diese Leute haben im allgemeinen keinen Schlag, und
Freddy war noch dazu eine ganz besonders windige Erscheinung, wenn man ihn
so sah.“87 Man vermeint geradezu, Brechts Gelächter ob seines Sportschützlings
Meinke zu vernehmen: Meinke etabliert einen „unnatürlichen Schlag“88; er boxt
zuerst unter dem „Kosenamen“89 Freddy, dann trägt er „einen erstklassigen Namen“90:
Kinnhaken. Durch Training versucht er, seinen Körper zu einem Werkzeug seines
Willens zu formen: Die Selbsttechnik sei lediglich eine „Folge von Sichzusam-
mennehmen“91, erklärt der Erzähler im Text. Boxen wird – ohne das hohle Pathos
der Unterhaltungsliteratur – zu einer Praxis der Selbstbeherrschung, zur Schulung
kontrollierter MachtausĂĽbung. Der Sport erweist sich so als eine Kulturtechnik, die
dem kausalen Denken der Moderne mit seinen Postulaten der Zweckmäßigkeit,
Körperindustrialisierung und Subjektformierung entspricht. Als schlagtrunkener
Athlet ohne nennenswerte Wirkkraft erscheint Meinke als ein jämmerlicher ath-
letischer Ausdrucksträger der Zeit, der sich zugleich mit dem Impuls drastischer
boxerischer Transformation konfrontiert sieht: Er verwandelt sich von einer be-
lächelten, beim Fototermin in Damenmode gewandeten Jammergestalt zu einem
Sporthelden im Scheinwerferlicht: „Aber dann hatte er plötzlich ein Tempo wie
ein Propeller, und dazu ein Hineingehen wie mit fünfzig Pferdekräften.“92 Der fe-
tischisierte Blick auf das Boxen gibt Brechts Ăśberdruss an der Ăśbercodierung der
Boxerfigur frei. Brecht rekurriert in Der Kinnhaken deshalb auch auf die mit Boxen
assoziierten Binäroppositionen von Sieg und Niederlage, Held und Verlierer, indem
er Meinke vor die „Chance seines Lebens“93 stellt. Das Muster sozialen Aufstiegs
durch Boxen kommentiert der Autor mittels Inversion: Meinkes Qualifikation, in
einem Meisterschaftsduell anzutreten, ist nicht Ergebnis sukzessiven Durchboxens
– vor dem Kampf um die Meisterschaftskrone boxt Meinke „einige Monate in klei-
neren Städten wie Köln und so in der Provinz herum“94; beiläufig räumt Brecht ein,
dass Freddy auf das maßgebliche Titelduell warte: „Er hatte an diesem Abend ei-
nen ausgewachsenen Erfolg und steuerte direkt auf den Meisterschaftskampf zu.“95
In der Figur des Boxers Meinke laufen die Fäden zusammen: Und „am Schluß
war der ganze Mann wirklich ein einziger Kinnhaken“96. Brecht etabliert das Bild
87 Ebd.
88 Ebd., S. 207 (Hervorh. WP)
89 Ebd., S. 205f (Hervorh. WP)
90 Ebd., S. 206 (Hervorh. WP)
91 Ebd.
92 Ebd.
93 Ebd.
94 Ebd.
95 Ebd.
96 Ebd.
250 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440