Page - 260 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Um es gleich vorwegzunehmen: ich möchte den von euch, den es am dringendsten
nach seinem Eintrittsgeld verlangt, ich will sagen, ich möchte diesen eigentümli-
chen Herrn jetzt sogleich zu einem kleinen Boxkampf über acht Runden mit vier
Unzen-Handschuhen eingeladen haben. […] Nun, wir werden ja sehen, denke ich,
ob das hier die Wahrheit war, die wir hier aufgeführt haben, oder ob es ein gutes
Theater war oder ein schlechtes, meine Lieben.187
Die gesamtgesellschaftliche Konfusion, repräsentiert durch ein chaotisches
Personal auf der Bühne und eine nicht mehr nachvollziehbare Handlung,
konterkariert Brecht mit der Entscheidungslogik des Boxens. Antagonisti-
sche Aktivität ist aber kein Allheilmittel; sie täuscht über die Unübersicht-
lichkeit nur mehr hinweg. Die abschließende Regieanweisung im Elefanten-
kalb lautet: „Alle ab zum Boxkampf“188. Den auf Entscheidung drängenden
Aktivismus des Boxens durchkreuzt Brecht auch im Dreigroschenroman; im
Eröffnungskapitel geraten hier zwei Bettler im „schmutzigsten Viertel“189
Londons in Streit. Der Obdachlose George Fewkoombey, ein Kriegsversehr-
ter aus dem südafrikanischen Burenkonflikt, gerät in einen Hinterhalt – auf
der Flucht vor einem Schutzmann wird er von einem anderen gehandicap-
ten Herumtreiber in eine Gasse gelockt. Fewkoombey wird das Opfer eines
Theatertricks. Auf einmal
kletterte der Krüppel, ein älterer Mensch mit riesiger Kinnlade, affenartig aus sei-
nem Karren, besaß plötzlich wieder seine beiden gesunden Beine und stürzte sich
auf ihn. Er überragte Fewkoombey um gut eine Haupteslänge und seine Arme
waren wie die eines Orang Utans. „Jacke aus!“, rief er.190
Der Angreifer verkündet in feierlichem Ton, der seinen Worten größere Bedeu-
tung verleihen soll, und der nicht zur Gefahrenlage passt:
Zeige in offenem, ehrlichem Kampf, ob du fähiger bist als ich, eine sich gut ren-
tierende Stellung zu besitzen, die wir beide erstreben. „Freie Bahn dem Tüchtigen!“
und „Wehe dem Besiegten!“ ist mein Wahlspruch. Auf diese Art ist der ganzen
Menschheit gedient, denn nur die Tüchtigen kommen so in die Höhe und in den
Besitz des Schönen auf Erden. Wende aber keine unfairen Mittel an, schlage nicht
unter den Gürtel und ins Genick und laß die Knie aus dem Spiel! Der Kampf muß,
187 Ebd.
188 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
189 Brecht 1990, S. 13
190 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
260 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440