Page - 267 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 267 -
Text of the Page - 267 -
Kampfaktion und Faustschlägerei motivierten Vorabkommentar mit auf den
Weg: „Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Menschen […].
Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, beurteilen
Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das
Finish.“234 In einem mit Boxkämpfe überschriebenen Gedicht erprobt Brecht
ebenfalls 1923 die semantische Schnittmenge von Boxen und Militarismus-Pa-
rodie: „Das ist ein guter Artillerist / Der seinen Feind nicht haßt oder liebt / Der
den Feind nicht kennt, ob er braun oder blond / Und der ihm Saures gibt.“235
Der Kanonier aus dem Vers, der die Einschläge seiner todbringenden Geschütze
gewöhnlich aus sicherer Distanz registriert, findet sich unversehens in einen
boxkampfähnlichen Nahkampf verstrickt: Verpass dem Feind, lässt Brecht ein
imaginäres Ringpublikum toben, eine ordentliche Tracht Prügel! Kriegsfana-
tismus anno 1914 wird hier in die gesellschaftspolitische Arena zu Beginn der
1920er-Jahre zurückverlagert. Zwei Jahre darauf versetzt der Autor dem stili-
sierten Akt des Kämpfens im Gedicht Wenn man das gesalzene Krabbenzeug aß
einen weiteren Schlag. Wiederum erweist sich Brecht als nicht gerade vertrau-
enswürdiger Sportkult-Chronist: Die Figur des Boxers, die im grellen Licht der
Öffentlichkeit agiert, wird in das unheildrohende Ambiente eines „Saloons“236,
bevölkert von neun Seeleuten, rücktransferiert, worauf sich eine Kneipenschlä-
gerei entfaltet: „Und es schließt eine Faust mit einem Schlag / Ein Auge, das
zuviel sah.“237 Boxen erscheint nicht länger als Inbegriff des Selbstzweckhaf-
ten in allen Lebensbereichen: Seine Kritik an der überschießenden boxerischen
Kampfeslust spielt Brecht über die Bande von Kampf und Körperlichkeit. Deut-
lich wird dies auch in Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner. Boxen als ein
Vehikel, kämpferisch ans Ziel zu gelangen, wird hier erneut von Brecht der Ent-
larvung und Entzauberung unterzogen. Samson-Körner gerät mit 16 Jahren – er
ist zu diesem Zeitpunkt bereits „groß wie ein Mastbaum“238 – zum ersten Mal
mit Boxen in Kontakt. Auf einem Rummelplatz in Cardiff, in Begleitung eines
13-jährigen Mädchens, bemerkt er in einer Bude aus Leinwand eine Gruppe
von Boxern.239 „Und zwar waren zwei Leute da, die fest engagiert waren, sich
gegenseitig die Köpfe zu verdreschen, und außerdem konnten sich auch aus
dem Publikum Leute melden, die Keile haben wollten.“240 Nach kurzem Zögern
234 Brecht 1989b, S. 438
235 Brecht 1993c, S. 272
236 Brecht 1993h, S. 326
237 Ebd.
238 Brecht 1997b, S. 222
239 Vgl. ebd., S. 222f
240 Ebd. 267
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440