Page - 271 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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kampf –, zentralen Denk- und Handlungsparadigmen des zeitgenössisch-spor-
tiven Lebensmodells, wird im Lebenslauf nahezu bagatellisiert. Samson-Körners
erster Faustkampflehrer – „Das war der Neger Kongo. Dieser Schwarze war ein
richtiger Boxer, ziemlich der erste, mit dem ich näher zusammenkam“258 – er-
weist sich in absehbarer Zeit als Negativfigur innerhalb des boxsportlichen
Felds: Kongo tritt, so unvermittelt wie überfallsartig, als ein offensichtlich am
Alkoholismus leidender Kleinganove auf, einer Welt von Korruption und Ver-
brechen entstammend259:
Er teilte sein Leben nur nach Trinkzeiten ein. Alles andere vergaß er, die Zeiten
seiner Besoffenheit aber hob er sich in seinem Gedächtnis auf. Er konnte sich
nicht erinnern, was in einem bestimmten Jahr gewesen war, wo er gearbeitet, wo er
geboxt, wo er gewohnt hatte.260
Kongo neigt außerdem zu Übertreibungen und Lügen, die Boxern zwar nicht
fremd sind – vom Superlativischen und Großsprecherischen lebt dieser Sport
bis heute –, die Kongo jedoch spürbar überstrapaziert; Samson-Körner berichtet
im Lebenslauf:
Und ich glaube nicht, daß er einen da anlog, was das Trinken betrifft, obgleich er
in allen Dingen fürchterlich log. Er hätte einem in vollem Ernst erzählen können,
daß ihm ein Haifisch seinen linken Arm weggebissen habe, und wenn diejenigen,
die gerade zuhörten, ihm seinen gesunden linken Arm gezeigt hätten, sagen kön-
nen: „Ja, das ist eigentümlich, meint ihr nicht auch?“261
Ausgerechnet Kongo macht Samson-Körner mit den Ökonomien von Kraft,
Körper und Konzentration vertraut, die in Form des Faustkämpfens Lebens-
glück garantieren sollen: „Er zeigte mir zum erstenmal das Boxen.“262 Der spä-
tere Schwergewichtsmeister und Deutschland-Heimkehrer Samson, der 1922
im Duell um die Boxerkrone seinen Gegner, den amtierenden Deutschland-
meister Hans Breitensträter, in der 9. Runde überraschend zu Boden schickt263,
wird, auf die einfachste Formel gebracht, vom Halunken Kongo in die Grund-
lagen des boxsportlichen Könnens eingewiesen. Die autobiografischen Be-
258 Brecht 1997b, S. 234 (Hervorh. im Orig.)
259 Vgl. ebd., S. 235
260 Ebd.
261 Ebd.
262 Ebd.
263 Vgl. Behrendt 1990, S. 86; Faktor 1994, S. 229 271
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440