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ches Leben“298. Die Folgen von Freddys Fehltritt – Meinke überkommt die Lust
auf ein Glas Bier, das ihm sein Manager Kampe verbietet299 – sind innerhalb
dieser wenig komplexen Mittel-zum-Zweck-Matrix vorhersehbar: „Logische
Konsequenz der […] verfehlten Lebensweise“, so Extra, seien „Selbstzweifel
und der darauf folgende endgültige K. o.“300. Boxen ist bei Brecht jedoch weitaus
dichter in die Sphären des Gesellschaftlichen gesenkt – und nur am Rande von
Wenn-Dann-Relationen durchsetzt. Als Verkettungen von Mittel und Zweck
stellt Brecht den Sport nicht dar: Boxen gleich Körperveredelung gleich Le-
bensglück – Boxen gleich Aufstiegsnarrativ.301 Brecht passt Boxen vielmehr in
komplexe Anordnungen ein: Der Faustkampf, seiner leichten Lesbarkeit wegen
zur Illustration des Offensichtlichen und Extravaganten eingesetzt, erscheint bei
Brecht auf zeitgenössische Konfliktfelder transferiert und in alltagskulturellen
und ökonomischen Kontexte verankert. Die Figur des Faustkämpfers wird zum
„spezifische[n] Identitätsentwurf für Modernisierungsverlierer“302 modifiziert,
fern klassengesellschaftlicher Deutungsmuster; Boxen wird gleichsam mit einer
Vielzahl an Widerhaken ausgestattet, die sich im sozioökonomischen Netz mit
seinen diskursiven, praktischen und institutionellen Komponenten verfangen,
zuweilen bis in die Feinstruktur des Psychophysischen hinein.
5.
Neue
Ankerpunkte:
Sachlichkeit,
Körper,
Seele
Nur auf den ersten Blick präsentiert Brecht seine Boxerfiguren als Bündel neu-
sachlicher Vorstellungswerte. In einem Interview, 1926 in der Literarischen Welt
publiziert, äußert sich der Autor zur Arbeitsweise am Lebenslauf:
Ich wollte ihn für mich festhalten. Die einfachste Methode war, mir von ihm sein
Leben erzählen zu lassen. Ich halte allerhand von der Wirklichkeit. Allerdings sind
solche Wirklichkeiten wie Samson-Körner an den Fingern herzuzählen: Glücks-
fälle. Was mir bei Samson zuerst auffiel, war, daß er nach einem ganz nichtdeut-
schen sportlichen Prinzip zu boxen schien. Er boxte sachlich. Das hat einen großen
plastischen Charme.303
298 Ebd.
299 Vgl. Brecht 1997a, S. 208f
300 Extra 2006, S. 196
301 Vgl. Todorow 2003, S. 298ff
302 Ebd.
303 Guillemin 1975, S. 190
276 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440