Page - 305 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 305 -
Text of the Page - 305 -
zum Faustsport finden sich im Mann ohne Eigenschaften indes nur an einer ein-
zigen Textstelle erwähnt. „Es bewegten so viele Dinge die Menschheit“2, wird
der Boxsportboom im Roman reflektorisch erfasst. „Ein Negerboxer hatte den
weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnson hieß
er.“3 Musil spielt auf ein Boxsportduell an, das die Aufmerksamkeit der Zeitge-
nossen erregt. Ende Dezember 1908 schlägt der ehemalige Baumwollpflücker
Jack Johnson in Sydney auf den Titelträger Tommy Burns mit solcher Wucht
ein, dass der Kampf von der Polizei vorzeitig in der 14. Runde abgebrochen
wird.4 Johnson erobert als erster Afroamerikaner den Weltmeistertitel; für die
nationalistische Presse bricht der „Untergang der weißen Rasse“5 an. Abgesehen
davon nähert sich Musil dem Boxen jedoch kaum je als Arrangeur des Doku-
mentarischen; er platziert den Sport gleichsam im Spiegelkabinett des Denkens.
Bereits in Heft 29 seiner Aufzeichnungen, in der Zeit zwischen Juli und August
1914, notiert der Autor:
Und es sind alle wichtigen Dinge des Lebens, alle umschlagenden Entscheidungen
zum Teil Illusionen. Fürchtet sich einer in einer dunklen Gasse vor einem Mann,
der ihm begegnet, so wächst der ins Unheimliche (buchstäblich), die physischen
Veränderungen, die sich an einem Gesicht vollziehen, das man zu lieben beginnt,
sind bekannt, ein Stoß beim Boxen […] kündigt sich schon voraus an, dadurch,
daß vor dem Weg den man einschlägt alle Widerstände zur Seite zu treten schei-
einen vergessen lassen, dass [sic] Boxen Sport ist und ,the noble art of selfdefence‘“ (vgl. Musil
2009, Lesetexte, Band 15, Fragmente aus dem Nachlass, Nachgelassene Glossen, Die Kölni-
sche Schule). Musils Abschrift ist mit minimalen Änderungen der Zeichensetzung und Na-
mensschreibung versehen (Musil schreibt etwa „die kölnischen Maler“; Domgörgen „die Kölner
Maler“, vgl. Domgörgen 1997, S. 39); geringe Abweichungen sind feststellbar: Nach „Ludwig
Neeke“ zieht Musil nach einer längeren Auslassung eine Passage vor, die in Domgörgens Text
gegen Ende steht: „Das große heilige Köln gab Deutschland 1931 drei Meister – Metzner, der
ja Doppelmeister ist, und Dübbers – und Europa zwei, den Müller und mich.“ (Domgörgen
1997, S. 42) Nach „beigebracht wird“ findet sich eine Auslassung, wobei die Musil-Abschrift
auf Ellipsenzeichen verzichtet; nach „siegen konnte“ ist die Weglassung korrekt vermerkt, vgl.
Domgörgen 1997, S. 41
2 Musil 1989a, S. 359
3 Ebd.; dass Musils Befassung mit Boxen literaturwissenschaftlich wenig erforscht ist, mag man
auch in der Tatsache erkennen, dass die auf Vollständigkeit bedacht digitale Klagenfurter Mu-
sil-Ausgabe den Namen des Boxers Johnson nicht in ihrem Personenregister führt; im Gegen-
zug werden die Namen der deutschen Boxer Fritz Ensel und Ludwig Neeke ins Register aufge-
nommen, die Musil in seinen Schriften am Rande erwähnt – einer der berühmtesten Athleten
der Boxhistorie erhält keinen Eintrag, dafür zwei nahezu vergessene Boxer aus der deutschen
Provinz, vgl. Musil 2009, Kommentare & Apparate, Register, Personen
4 Vgl. Meinhardt 1996, S. 116; Wondratschek 2005a, S. 43
5 Kohtes 1999, S. 49 305
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440