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zess der Aufklärung konstituiert und mit einem „Körperselbstgefühl“109 unhin-
terfragter „Einheit“110 ausgestattet, sieht sich den Zergliederungstendenzen der
Zeit ausgesetzt: Musil reagiert auf das „Faktum einer zerbrochenen Wirklich-
keit“111, die sich nicht „zum Ganzen“112 fügen lässt. „Die Metapher des nicht zu
schließenden Kreises durchzieht das Werk Musils wie ein roter Faden“113; die
Zeitmentalitäten und Lebensumstände sind flächendeckender Zersplitterung
ausgesetzt. „Die Zeit des Ichs“, notiert Musil im Februar 1932 in sein Tagebuch,
„muß zu Grabe getragen werden.“114 Im Mann ohne Eigenschaften legt der Autor
die „Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens“115 ausführlich dar. Wahr-
scheinlich sei der Prozess der Auflösung dieser Art des Auftretens, so Musil,
das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat,
aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst an-
gelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und
am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu er-
scheinen. Es gibt wohl noch Leute, die ganz persönlich leben; sie sagen „Wir waren
gestern bei dem und dem“ oder „Wir machen heute das und das“, und ohne daß
es sonst noch Inhalt und Bedeutung zu haben brauchte, freuen sie sich darüber.116
Als „Beute einer Leidenschaft“117 verfangen und sammeln sich die heterogenen
diskursiven Elemente in Musils solcherart aufgespanntem Kohlweißling-Ke-
scher, den er im Vortrag Über die Dummheit projektiert hat. In Durch die Brille
des Sports verkündet er zugleich in der Tonlage des Ironischen, dass er „das
Verlangen nach einer philosophischen Begründung der Jetztzeit, wenn es auch
wahrscheinlich überall vorhanden ist, doch nicht zu sehr ermüden“118 dürfe.
Musil probt das Ineinander unterschiedlicher Diskursstränge in den populären
Sportarten und Freizeitangeboten seiner Zeit in nicht hierarchisierter Ordnung,
dafür aber in diskurskritischem Verfahren. Gemächliches Gehen im Naturerho-
lungsgebiet des Wiener Praters veranlasst den Autor in Als Papa Tennis lernte zu
109 Ebd.
110 Ebd.
111 Zaunschirm 1982, S. 204
112 Ebd.
113 Ebd., S. 210
114 Musil 1976a, S. 823
115 Musil 1989a, S. 150
116 Ebd.
117 Ebd., S. 42
118 Musil 1978e, S. 794
318 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440