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der Feststellung, für die „Empfindungen und Gedanken“119 während des Spa-
zierens sei es keineswegs einfach, einen adäquaten „Ausdruck“120 zu finden. Die
Frage nach dem Phänomen des Verlierens im Tennisspiel scheint Musil wiede-
rum „eine psychologische zu sein“121. In der Studie Randglossen zu Tennisplätzen
schreibt er:
Ich kann das nur gefühlsmäßig behaupten, aber ich glaube, eine Statistik würde
es bestätigen, daß selten ein Ball so scharf oder die Taktik des Gegners so überra-
schend ist, daß man nicht darauf erwidern kann, und daß in den meisten Fällen
der Zuschauer an einer undefinierbaren Eigenheit der Bewegung vorausweiß, daß
der Ball fehlgehen wird.122
Insofern scheint es nur konsequent, dass Musil in der Glosse Durch die Brille
des Sports auch einen „gewissen Zusammenhang zwischen Sport und Brille“123
herstellt, um durch die Verknüpfung der Bedeutungsbereiche Sport und Seh-
behelf insbesondere Kritik an der inhaltsleeren Schwärmerei für Fitnessprah-
lerei und die Verheißungen der Leibesübung anzubringen: „Musils ironische
Wendung von der ‚Würde der Brille‘ verdeutlicht, dass die Mode des Sports
die bürgerliche Kultur verrät, weil sie sich Geist wie eine Brille aufsetzen.“124
In dem Gespräch von 1926 gibt Musil seiner Verwunderung Ausdruck: Statt
„‚in etwas leben‘ – ‚für etwas leben‘ – lauter Zustände, in denen ich den inneren
Zwiespalt äonisiere“125. Musil fokussiert, von allem Anfang an, nicht auf die
einzelnen Teile der riesenhaften Zirkulationsmaschine Sport, mehr auf „überge-
ordnete, allgemeinste Zusammenhänge“126, deren Beobachtung der Autor kon-
sequent bis auf die Textebene hinab betreibt: „Abschweifung“127 und „Kontin-
genzerzeugung“128 zählen zum Bauprinzip vieler Texte Musils. Zuweilen wirkt
es so, ließe sich zugespitzt formulieren, als habe Musil das Tänzeln der Boxer
im Ring in eine Erkenntnis von sich konzentrisch verbreiternden Kreisen über-
setzt. An der allgemeinen sportlichen Vergleichbarkeit und Messbarkeit und der
119 Musil 1978h, S. 688
120 Ebd.
121 Musil 1978f, S. 797
122 Ebd.
123 Musil 1978e, S. 792
124 Fleig 2008, S. 158
125 Fontana 1983, S. 382
126 Baur 1980, S. 100
127 Gamper 2001, S. 51
128 Fleig 2005, S. 93 319
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440