Page - 325 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportsleute geadelt werden, daß
sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt wer-
den, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von
ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar
verabscheuen.167
„Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt“168, polemisiert der
Schrifsteller gegen den massenmedial aufbereiteten Wortschwall vom Sport und
gegen dessen inszenatorische Umsetzung in Arenen und Stadien: „Man weiß
eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es
wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes
Gut nennt.“169 Den durch Sport ausgelösten Begeisterungstaumel kleidet Mu-
sil in bissige Kritik und kritische Bestandsaufnahme. Im Naherholungsgebiet
fordere der Bau eines olympischen Stadions die „letzten Reste des Praters“170,
konstatiert Musil in Als Papa Tennis lernte. Der Triumph des Bewegungskul-
turellen über das naturgegebene Environment ist nicht revidierbar, auch dann
nicht, wenn der „letzte Baum des Wiener Praters Mitglied eines Sportvereins
sein wird“171. Musils Bemerkung im Mann ohne Eigenschaften, wonach morgens
viele „Fäuste gegen einen Boxball prasseln“172, ehe die Menschen ins Büro gin-
gen, lässt sich ebenfalls als konkreter Kommentar zum Sportboom lesen; durch
das Boxballprasseln würden nur „sinnlose Erwartungen“173 geschürt, denn „nie-
mals kommen die Abenteuer, die einer solchen Vorbereitung würdig wären“174.
Dass Sport „menschlich erziehe“175 und, wie allenthalben behauptet, „allerhand
hohe Tugenden“176 fördere, ist für Musil der letztlich schlagende Ausdruck
einer gigantisch-grotesken Apotheose des Zuschauersports, dem der Autor
„keinerlei positive Werte“177 abgewinnt. „Das individuelle, beglückende Bewe-
gungserlebnis wird von Musil scharf dem Spezialistentum des Zuschauer- und
National prestigesports gegenübergestellt.“178 Die öffentlich zelebrierte Geistlo-
167 Musil 1978h, S. 691 (Hervorh. im Orig.)
168 Ebd.
169 Ebd.
170 Ebd., S. 687
171 Ebd., S. 690
172 Musil 1989a, S. 46
173 Ebd.
174 Ebd.
175 Musil 1978g, S. 698
176 Ebd.
177 Baur 1976, S. 146
178 Ebd., S. 145 325
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440