Page - 337 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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definiere, dessen Pole sich mit Verstandeslogik und Körpergebrauch – Ulrich selbst
spricht im Mann ohne Eigenschaften von „Mathematik und Mystik“285 – umschrei-
ben ließen, schließt sich diese Arbeit an. Im Sog der kulturellen Moderne probt
Musil im Bild des Boxers in „Annäherung an das [M]ehr-als-Rationale“286 den
Brückenschlag von Körper-Geist-Seele. Ulrichs Betrachtungen zum Sport lässt
Musil konstant um den „Zwiespalt von Gefühl und Verstand, von Intuition und
Wissenschaft, von Bewusstsein und Unterbewusstsein“287 kreisen: Der menschliche
Körper, kommentiert Foucault in Überwachen und Strafen, gehe „in eine Macht-
maschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt“288.
Musil ist einer der ersten modernen Autoren, der den menschlichen Körper in die
Verfahrensweisen der Psychotechnik paradox einbindet: Im modernen Sport ist der
Körper „Objekt wissenschaftlich angeleiteter Kontrolle“289 – zugleich gestattet er
„individuelle Erfahrungen“ 290 fern jedes reglementierenden Zugriffs. Die im Leit-
bild des Boxers verkörperten Leib-Technik-Versprechungen zweifelt Musil deshalb
auch an und folgt in seinem Denken den „Möglichkeiten des subjektiven Erlebens
in der Körperbewegung“291. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die „individuelle Per-
spektive“292, indem er sich der psychotechnischen Organisation des Einzelnen wid-
met. Auch mit Hilfe der in der Figur des Boxers demonstrierten Körperdominanz,
die nach Auffassung Musils ja gerade das Ideal der Superiorität des Körperlichen
über das Geistige ins Wanken bringt, stellt der Autor in Durch die Brille des Sports
die grundsätzliche Gegensätzlichkeit von Körper und Geist infrage:
Das ist einer der größten Reize des Sports. Im Augenblick der Ausführung sprin-
gen und fechten dann die Muskeln u[nd] Nerven mit dem Ich, nicht dieses mit
ihnen, und sowie nur ein etwas größerer Lichtstrahl von Überlegung in dieses
Dunkel gerät, fällt man schon aus dem Rennen.293
Sport scheint eine „Angelegenheit des Es, nicht des Ich“294 zu sein: Musil lenkt
die Aufmerksamkeit auf die diskursiven Verschmelzungsvorgänge von Körper
und Geist – dem Kult der boxsportlichen Körperkunstfertigkeit huldigt er nicht.
285 Musil 1989a, S. 770
286 Lindner 1994, S. 188
287 Bernett 1960, S. 150
288 Foucault 1994, S. 176
289 Fleig 2008, S. 32
290 Ebd.
291 Fleig 2005, S. 81ff
292 Ebd., S. 83
293 Musil 1978e, S. 793
294 Müller 2004, S. 122 (Hervorh. im Orig.) 337
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440