Page - 339 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Wenn der Mensch am Steuer eines sehr schnell fahrenden Kraftwagens sitzt,
wenn er scharfe Flugbälle placiert oder ein Florett führt, hat er in einem kleinsten
Zeitraum u. mit einer Schnelligkeit, wie sie im bürgerlichen Leben sonst nirgends
vorkommt, so viele genau auf einander abgestimmte Akte der Bewegung u. Auf-
merksamkeit auszuführen, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein
zu beaufsichtigen.304
Vordergründig attackiert Musil die Muskelkraftaposteln und deren katarakt-
gleiches Leistungs- und Optimierungsgerede. Der fokussierte Blick auf das
Boxen eröffnet ihm jedoch neue Spielräume im Diskursiven: Boxen, erkennt
Musil, ist nicht allein Resultat offenkundiger Körpermechaniken, die den Kor-
pus als Biomasse ohne Geheimnis definieren; Boxen resultiert aus der Zusam-
menschau und dem Zusammenspiel körperlicher, geistiger, kontemplativer und
ekstatischer Momente. Im Boxen finden sich die Signifikanten von Musils er-
weiterter Sportreflexion veranschaulicht – Boxer enthemmen und kontrollieren
sich zugleich. Sie reagieren in bisweilen fast blitzartiger Weise auf sich ständig
wechselnde Ringsituationen, in undurchsichtiger Mischung von körperlichem
Reflex und alarmierter Geistesgegenwart. Boxer setzen ihre Leistungsschwelle
jenseits aller nachvollziehbaren Steigerungslogik hinauf; erstklassige Athleten
sind imstande, letzte Kraftreserven zu mobilisieren, sehen sie ein Wanken oder
eine Lücke in der Verteidigung des Gegners aufblitzen – aber auch körperlich
leistungsfähige Boxer können Reaktion und Reflex qua Einübung von Selbst-
disziplin, Bewegungs-, Abwehr- und eben Reflex- und Reaktionsabläufen nur
behelfsmäßig trainieren. Der Lucky Punch lässt sich nicht wegtrainieren.
Sportkräfte: Augenblick, Erlebnis, Entfesselung
In den Leibpanzern der Boxer, entledigt von sportlichen Automatismen, bil-
den sich Risse: In seinen Schriften nähert sich Musil diesen Paradoxa des Bo-
xens. An der boxerischen Sekundenwirklichkeit, die nicht restlos kalkulierbar
scheint, zeigt sich Musil dabei ebenso interessiert wie an der boxerischen Au-
genblickserfahrung, der Erlebnisbezogenheit, den geistigen Entfesselungsmög-
lichkeiten und dem körperlich Ungebärdigem dieses Sports, jene vier aufein-
ander bezogenen Sphären, von denen keine ohne die Katalysatorwirkung der
anderen vorstellbar ist. Musils Faszination für das Boxen liegt unter anderem
im „nicht voraussehbaren Augenblick“305 begründet. „Damit beschreibt Musil
eine Möglichkeit des Sports, die er allerdings schon im Prozess der Entstehung
304 Musil 1978e, S. 793
305 Fleig 2008, S. 94 339
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440