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Der zelebrierten Lust an Körperlichkeit und Kampfkraft kann Musil auch im Rie-
sen Agoag wenig abgewinnen. Der Körper, mit dem man es zu tun habe, postuliert
er in Kunst und Moral des Crawlens, sei „gar kein fester, sondern ein elastischer und
in sich veränderlich bewegter“362. In Der Riese Agoag verwandelt sich der Körper
sogar zu einer Art Lehrmeister: „Musil entwirft das Idealbild geistiger Kraft nach
der Art der Körperkraft und ihrer (sportlichen) Methodik.“363 Den mit Boxen
integral verbundenen Körper, der in der „Arbeits- und Kampfgesellschaft“364 Wei-
mars „längst Prothese“365 war, macht Musil auf dem Umweg des geistigen Prinzips
wieder spürbar. Er erweist sich als ein Parteigänger des geistigen Prinzips, das im
Bild des Boxers in eine deutlich individuell geprägte Variante differenziert: Dem
Boxer dienen nicht allein Körpermodellierung und Drillaskese zu Selbstvergewis-
serung und Selbststilisierung; die „am Körper angewandte Disziplinartechnik“366
hat auch den Effekt, „eine Seele“367 erkennen zu lassen. Mit diesem Bild des Bo-
xers – exemplifiziert in Der Riese Agoag wie im Mann ohne Eigenschaften – weist
Musil bereits in den 1920er-Jahren auf die Aporien moderner Individualitätskon-
zepte hin.
6.
Wankende
Muskelriesen:
Der
Fall
des
Trainings
Musil karikiert und demaskiert die rigiden Programme selbsttechnischer Trai-
ningsarbeit; der Ernstfall des Trainings, so der Erzähler im Mann ohne Eigen-
schaften, rufe ein Verhalten auf den Plan, bei dem „gewöhnliche Menschen“368
glaubten, sich „mit den Mitteln eines strampelnden Kindes […] des großen Bu-
sens der Natur […] bemächtigen“369 zu können. Technikfetischismus, der sich
als Training bemäntelt, düpiert er in Als Papa Tennis lernte als die „Verbindungen
von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit“370. Im Training wird ein
Soll-Zustand angestrebt, der im Boxring als Ist-Zustand nicht bis ins Detail
planbar scheint: Körpertechnisierung und Muskelformungsapparate, Diätvor-
schriften und manövergleiche Reglements über Bewegungsabläufe, Kraftgewin-
362 Musil 1978g, S. 695
363 Müller 2004, S. 123
364 Sloterdijk 1983, S. 797; vgl. ebd.: „In den Weimarer Jahren rückt die Technik dem alten Huma-
nismus provozierend auf den Leib.“
365 Sloterdijk 1983, S. 797
366 Foucault 1977a, S. 381
367 Ebd.
368 Musil 1989a, S. 407
369 Ebd.
370 Musil 1978h, S. 687 347
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440