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in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in den Fängen eines
Raubvogels, bis ihn Müdigkeit überkam, der Griff sich löste und ihn senkrecht in
den Schlaf fallen ließ.400
Die neoromantischen und vitalistischen Gegenströmungen zur Trainingsschin-
derei hinterfragt Musil ideologiekritisch am Beispiel des Lehrer Lindners aus
dem Mann ohne Eigenschaften. Musil testet damit das Relationsverhältnis zwi-
schen dem Sport und der lebensreformerischen Epochensignatur. Um die Jahr-
hundertwende steht die Lebensreformbewegung in genereller Lesart bei einem
bürgerlichen Publikum, das sich der Moderne verpflichtet fühlt, hoch im Kurs
– angestrebt werden die Ziele der Ganzheit, Harmonie und Gesundheit401: „Be-
reits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Körperkultur schon als eine ‚von
Hunderttausenden ausgeübte Kunst‘ bezeichnet.“402 Schon bald wandelt sich
die Suche nach der Natürlichkeit des Lebens allerdings zu einem Anschau-
ungs-, Vorstellungs- und Sammelraum für radikal divergierende Körperideen
und -ideologien: Jugend- und Wandervogelbewegung im urbanen Raum –
Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung in den ländlichen Gebieten403;
Mensendieck-Gymnastik, Ausdruckstanz, Kleiderreform, FKK, Lichthunger,
Bodybuilding, Yoga, Schönheitskonkurrenzen, Diät-Kult und Vegetarismus.404
Körperkultursanatorien und buddhistische Zentren werden eröffnet.405 In den
1920er-Jahren schlägt sich das „Leiden an der Welt“406 schließlich in der „Flucht
in die harmonischen Gegenwelten der Esoterik, in östlichen […] und katholisie-
renden Mystizismus […], Paganismus […] und neuheidnische Naturkulte, in
das vermeintliche Paradies ‚primitiver‘ Kultur der Südsee […], Afrikas oder des
Tibet, in die ,reine‘ Form des Geistigen“407 nieder. Der Körper bildet das Zen-
trum (und Bollwerk) der lebensreformerischen Überlegungen. Ideologisch wie
praktisch grenzen sich viele Neu-Körper-Strömungen mit ihren weltfremden
Erlösungsideen zwar vom Mensch-Maschinen-Modell ab – da aber viele dieser
Neuorientierungsversuche evident auf dem starren Gerüst der Dogmatik auf-
bauen, schreiben die Körperkultur- und Lebensreformbewegungen durchaus die
Normierung und Typisierung des Körperlichen fort und fest. In der Figur Lind-
ners karikiert und prüft Musil die diskursive Belastbarkeit der Lebensreform-
400 Ebd., S. 531f
401 Vgl. Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 338f
402 Ebd., S. 13
403 Vgl. Fischer 1999, S. 45ff
404 Vgl. Graeser 1927, S. 7f; Alkemeyer 2009, S. 53f; Cowan, Sicks 2005, S. 15ff
405 Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 11ff
406 Mai 2001, S. 25
407 Ebd.
352 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440