Page - 356 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Der Blick, lange Zeit gebannt von klassizistischen Körperharmoniemodellen
und Emil du Bois-Reymonds Versuch, den menschlichen Muskel als thermo-
dynamische Kraftmaschine darzustellen, dessen Pflege geradezu heilige körper-
kulturelle Pflicht sei434, dringt im psychotechnischen Denken der 1920er-Jahre
unter die Oberfläche: in die Schichtungen des Haut- und Muskelgewebes, in die
Tiefenebenen der neuronalen Verknüpfungen. Das „sezierende Auseinander-
nehmen“435 des Leibes wird von der „Gesamtschau des Körpers“436 abgelöst. An
die Stelle der zergliedernden Physis-Durchdringung tritt das Examinieren jenes
psychotechnischen Zusammenspiels, das seine erkenntnistheoretischen Flucht-
punkte oberhalb des rein Körperlichen ansetzt: Der „Monsieur le vivisecteur“437
aus Musils Tagebüchern, die der Autor um die Jahrhundertwende zu führen be-
ginnt, träumt davon, „seinen eigenen Organismus“438 – verstanden als das grö-
ßere Ganze und seine Teile, die zusammenwirken – „unter das Mikroskop“439 zu
bringen. Die „Anforderungen von Innenleben und Außenwelt“440 werden „neu
austariert“441; dem „scheinbar Einfachen seine wirkliche Komplexität“442 wie-
dergegeben. Im mutmaßlich simplen Sinnangebot des Boxens überlagern sich
durchaus hohe Komplexität mit den Applikationen modernen Lebens.
Möglichkeiten subjektiven Erlebens: Psychotechniker Musil
Marieluise Fleißer nähert sich 1929 in ihrem Essay Sportgeist und Zeitkunst
gleichermaßen von der, so Foucaults paradoxe Formulierung aus Die Geburt der
Klinik, „inneren Oberfläche“443 des Körperlichen der Idee des psychotechnisch
verdichteten Leistungsvermögens, das im Sportler sein „Erfolgsmodell“444 ge-
funden hat:
Doch ist bei erreichter Höchstform der Wille nicht die allein bewirkende Kraft,
die die Ausnahmeleistung vollbringt. Den Körper, der das Äußerste aus sich her-
seien, vgl. ebd., S. 22 (Hervorh. im Orig.)
434 Vgl. Sarasin 1998, S. 447f, Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 380, u. Alkemeyer 2009, S. 54
435 Roth 1972, S. 67
436 Hoffmann 1997, S. 38
437 Musil 1976a, S. 2
438 Ebd., S. 3
439 Musil 1976a, S. 3
440 Fleig 2008, S. 63
441 Ebd.
442 Sloterdijk 1983, S. 862
443 Foucault 1988, S. 16
444 Alkemeyer 2009, S. 55
356 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440