Page - 359 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 359 -
Text of the Page - 359 -
deklariert, mannigfaltige diskursive Überschneidungen und Überschreitungen
innerhalb des im Gegensatzdenken erstarrten Körper-Geist-Axioms, das der
Schriftsteller in seinem Diarium fern schlichter dialektischer Korrespondenzen
zum „Kraftgefühl“460 verwebt. Musil erkennt, dass auf dem Feld der psycho-
logischen Forschung an Stelle der verwissenschaftlichen, von sportlichen und
militärischen Übungs- und Ausbildungsabläufen dominierten Körperdominanz
das Phänomen der psychotechnischen Optimierung tritt, die „nicht nur ein-
zelne Bewegungen, sondern die ganze Persönlichkeit erfasst“461. Während Musil
aber im Bundesheere-Text, erstgedruckt in Militärwissenschaftliche und Technische
Mitteilungen, den psychotechnischen Erfahrungen auf dem Gebiet allgemeiner
sportiver Körperleistung nur am Rande Beachtung schenkt, macht der Autor im
Mann ohne Eigenschaften durch Ulrichs Faible für den Faustkampf, der im Über-
fall der drei Übeltäter zu Beginn des Romans existenzielle Funktion gewinnt,
auf die psychotechnischen Verfahren aufmerksam, die besonders im Boxen zum
Tragen kommen. In der Bundesheere-Schrift theoretisiert Musil die soldatischen
Verknüpfungsdispositionen von maximierten Kraft- und Ausdauerleistungen,
von bewegungstechnischen Schnelligkeits- und Sicherheitsfaktoren462; „zu ge-
spannte Aufmerksamkeit“463, analysiert er, beeinträchtige den Erfolg. Auf dem
Umweg der Prüfung militärischer Durchorganisation gewinnt Musil seinem Un-
tersuchungsgegenstand dennoch neue Einsichten über spezifische Merkmale des
Boxens ab. Mit der „Rationalisierung des Arbeitsvorganges“464 geht nicht nur die
„Steigerung der Leistungsfähigkeit durch Rationalisierung der Werkzeuge und
Maschinen“465 Hand in Hand, sondern die „gesamte Ausbildung, vor allem die
technische, mit dem Streben nach größter Raschheit, Exaktheit, Verlässlichkeit,
Erlernbarkeit usw. stellt ein kleines psychotechnisches System für sich dar“466.
Die Kraftreservoire von Soldat wie Boxer scheinen psychotechnisch optimiert:
Die „Tätigkeiten von großen Muskelgruppen“467 übertragen sich auf kleinere,
etwa durch die „Benutzung der natürlichen Rhytmik [sic] und das Bestreben,
unnütze Nebenbewegungen zu vermeiden“468. Der soldatisch-sportliche Kampf
zielt auf Leistungsvermehrung – und peilt eine neue körperliche Stilistik an:
460 Ebd., S. 150
461 Fleig 2008, S. 198; zur Verschränkung von Psychotechnik und Militärwesen vgl. Hoffmann
1997, S. 232ff
462 Vgl. Musil 1980, S. 197
463 Ebd.
464 Ebd., S. 190
465 Ebd.
466 Ebd., S. 194
467 Ebd., S. 190
468 Ebd. 359
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440