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sich, die „fast mechanisch auf äußere Reize“495 reagierten; die „vorausgestreckte
Aufmerksamkeit“496 stellt bereit, was „in der nächsten Phase in Anspruch ge-
nommen werden wird“497; als Folge ist „dauerndes, völlig unbewußtes Anpas-
sen der vorgebildeten Reaktionsformen an das augenblicklich Erforderliche“498
möglich. Ulrich im Mann ohne Eigenschaften wird über den Hebel betonter
Körperlichkeit mögliche Rückschlüsse auf die „Gesetze der Persönlichkeit“499
ziehen.
Mann der Boxsportpraxis: Ulrich im Ring
Ulrichs ersten Auftritt im Mann ohne Eigenschaften versieht Musil deshalb mit
entsprechenden Wirkmechanismen: Das erste Erscheinen des Manns ohne
Eigenschaften mündet in die Erläuterung der psychotechnisch verflochtenen
Boxsportbeschäftigung des Protagonisten. Ulrich treibt an einem Fenster sei-
ner Wohnung verharrend „Unsinn“500. Er mustert „seit zehn Minuten die Au-
tos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen
Gesichter der Fußgänger“501. Mit einem Wort: ein flirrendes Durcheinander,
all die „kleinen Alltagsleistungen“502. Was für eine „ungeheure Leistung“503
heute schon ein Mensch vollbringe, „der gar nichts“504 tue, staunt der Erzäh-
ler. Betrachter und Betrachtetes sind im Durcheinander der Sinneseindrücke
ineinander verwoben. Der Fensterblick ruft Konfusion hervor, dem ein Emp-
finden von Verlust und Verunsicherung anhaftet. Ulrich scheint in einem Netz
diskursiven Denkens und Handelns festgezurrt. „Wer kann das heute schon
wissen?!“505, fragt Musil:
Solcher unbeantworteter Fragen von größter Wichtigkeit gab es aber damals hun-
derte. Sie lagen in der Luft, sie brannten unter den Füßen. Die Zeit bewegte sich.
Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber
schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel; und nicht erst
495 Ebd.
496 Ebd.
497 Ebd.
498 Ebd.
499 Musil 1989a, S. 474
500 Ebd., S. 12
501 Ebd.
502 Ebd.
503 Ebd.
504 Ebd.
505 Ebd., S. 13 363
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440