Page - 371 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Im Mann ohne Eigenschaften treibt Musil den Begeisterungstaumel für rekord-
mäßige Messbarkeit und Normierung auf die Spitze:
Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch
analysieren, so würden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und
Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ih-
nen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein.583
Musil illustriert die psychotechnische Verfahrensweise in demonstrativ verstie-
gener Form; wie ein Antidot gegen Leistungszwang und Rekordsucht wirkt die
Verhaltensanleitung:
Nun haben aber noch dazu ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist
voraus, daß sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen läßt und der
Beste unter ihnen auch wirklich als der Beste erkannt wird.584
Sport und Psychotechnik, folgert Musil mokant, hätten „verdientermaßen“585
die „veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Größe“586 verdrängt.
Entgrenzungssehnsucht: Anderer Zustand
Musils Beschäftigung mit den unterschiedlichen Verfahrensweisen des Psycho-
technischen erschöpft sich aber nicht nur darin, dass er dem Optimierungs-
konzept ironische Schatten verpasst, es förmlich „psychotranchiert“587, wie der
Autor in Interview mit Alfred Polgar anmerkt. Musil will Konvergenzen von
sportlichem Erleben und Handeln aufspüren; er belässt die Sportpraxis in je-
ner „Lücke zwischen Arbitrarität und Systematisierung“588, die „nicht exakt
beschreibbar“589 und von widersprüchlichem Charakter ist. Einerseits nimmt
der Autor das Erleben im Sport gegen „seelische Überfrachtung in Schutz“590.
Andererseits räumt er den einzelnen psychotechnischen Teilakten im Sport
– am Beispiel des Boxens – die Möglichkeit zur Überschreitung von Körper-
583 Musil 1989a, S. 45
584 Ebd.
585 Ebd.
586 Ebd.
587 Musil 1978k, S. 1155
588 Fleig 2008, S. 205
589 Ebd.
590 Müller 2004, S. 118 371
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440