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Er hätte sofort zurückprallen müssen, als fürchte er sich, und dabei fest mit dem
Rücken gegen den Kerl stoßen, der hinter ihn getreten war, oder mit dem Ellen-
bogen gegen seinen Magen, und noch im selben Augenblick trachten müssen, zu
entwischen, denn gegen drei starke Männer gibt es kein Kämpfen.673
In die von grober Unsportlichkeit und Aggressivität geprägte Faustschlägerei
gerät Ulrich unversehens; die antrainierte boxerische Geläufigkeit versagt ihm
angesichts der speziellen Präsenz der Widersacher; auf boxsportliche Regeln
und Ordnungen kann er, wie oben dargestellt, nicht zurückgreifen.674 Boxen
stilisiert Musil nicht zu einem Vehikel inszenatorischer Sportlichkeit. Sport sei
roh, bekennt Ulrich. „Man könne sagen, der Niederschlag eines feinst verteilten,
allgemeinen Hasses, der in Kampfspielen abgeleitet wird“675. Für den Hobbyath-
leten endet die boxsportliche Bewährungsprobe in aller ironischen Konsequenz
mit einem groben Knock-out. Musil benutzt Ulrichs Kampf nicht als „darwi-
nistische Lebensmetapher“676. Er schickt Ulrich in den Kampf entsprechend
einer „Aufgabe, die […] gelöst werden soll, noch bevor sich sagen lässt, warum
sie gelöst werden soll“677. Anne Fleig hat darauf hingewiesen, dass der Überfall
auf Ulrich mit dessen aggressiver „Einstellung zum Leben“678 korrespondiere.
Als ein „Ritter des modernen Lebens“679 interpretiere er die nächtliche Attacke
deshalb auch als ein „Vorkommnis des modernen Lebens“680:
Als er wieder erwachte, überzeugte er sich, daß seine Verletzungen nicht bedeutend
waren, und dachte noch einmal über sein Erlebnis nach. Eine Schlägerei hinterläßt
immer einen unangenehmen Nachgeschmack, sozusagen von voreiliger Vertrau-
lichkeit, und unabhängig davon, daß er der Angegriffene war, hatte Ulrich das
Gefühl, sich unpassend betragen zu haben. Aber unpassend wozu?! Dicht neben
den Straßen, wo alle dreihundert Schritte ein Schutzmann den geringsten Verstoß
gegen die Ordnung ahndet, liegen andere, die die gleiche Kraft und Gesinnung
fordern wie ein Urwald. Die Menschheit erzeugt Bibeln und Gewehre, Tuberku-
lose und Tuberkulin. Sie ist demokratisch mit Königen und Adel; baut Kirchen
und gegen die Kirchen wieder Universitäten; macht Klöster zu Kasernen, aber teilt
den Kasernen Feldgeistliche zu. Natürlich liefert sie auch den Strolchen mit Blei
673 Ebd., S. 25f
674 Vgl. ebd., S. 26
675 Ebd., S. 29
676 Müller 2004, S. 123
677 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
678 Fleig 2008, S. 226
679 Ebd.
680 Ebd., S. 267 383
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440