Page - 399 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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wie jene diskursiven und praktischen Formationen, die sich der Sport mit dem
Theatralischen und Performativen teilt. Boxen bietet in Brechtscher Argumen-
tation dem Selbst des Menschen eine ideale Bühne, symbolisch und buchstäb-
lich: Im Ring testen Boxer, stellvertretend für das Publikum, die Möglichkeiten
der individuellen Selbstführung, im komplexen Zusammenspiel von individu-
alisierenden Disziplinierungsakten und Formen der Selbstrepräsentation und
Autoformation. Brecht öffnet das Diskursfeld Boxen dem Möglichkeitsdenken:
Er gesteht dem Sportler, nach einem Wort Musils eine zentrale Zeitfigur, die
Technik des Individualisierens zu; Boxen wird zum Training der Selbstmodel-
lierung und -beherrschung, die Körperdurchformung steht mit einer grundle-
genden Ästhetik des Selbst in enger Verknüpfung: Boxer formen und diszipli-
nieren ihre Körper – und zugleich ihre innere Konstitution; die Erweiterung der
Möglichkeitsbedingungen, die Brecht Boxen zugesteht, schafft zugleich Distanz
zum Genauigkeitspostulat der Neuen Sachlichkeit. Die Geburt des modernen
Subjekts, verkörpert in der Figur des Boxers, erfolgt bei Brecht mittels eines
diskursiven Geflechts von Körpertechnologien, Architekturen, Subjektivierun-
gen und Macht-Wissens-Formationen – in Praktiken öffentlicher Performanz,
ausgetragen vor Massenpublikum. Er erkennt auf den Sportbühnen Ausdrucks-
träger, deren Agieren in grundsätzlich neuer Perspektive, in Kategorien des
Theatralischen und Performativen, zu mustern seien: Sport und Bühne teilen
sich das Apriori des Körpers; das Auftreten der Boxer setzt sich aus körper-
lich-performativen Praktiken wie diskursiven Selbst- und Umgebungsformati-
onen zusammen. Brechts diskursive Syntheseversuche, in denen er Seelisches
und Sachliches zu verschalten sucht, gestaltet aber erst Robert Musil zu einer
folgenreichen Möglichkeit erweiterten Denkens im Zeichen des Boxens.
Offener Reflexionsraum: Musils Neuordnung des Boxens
Während die Trivialliteratur den Linien, die Boxen ins Epochenbild schraffiert,
gebannt folgt und Körper- und Kampfkult, Sport- und Rekordboom feiert, die
neusachlich-kritischen Berichterstatter Boxen und Zeit mit den Mitteln subli-
mer Ironie und karikierender Satire hinterfragen und Brecht qua Boxen neue
Phänomene in das Netz politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Trans-
formation webt, macht es sich Robert Musil zur Aufgabe, Sport im Allgemeinen
– und Boxen im Besonderen – als exponierten Erfahrungsfall im Laboratorium
der Moderne zu untersuchen. Als intellektueller Einzelkämpfer inmitten arg-
loser Apologeten des Athletenkampfs kritisiert, problematisiert und transfor-
miert Musil den Sport, indem er das Blickfeld auf das Boxen erweitert. Boxen
bildet einen wesentlichen Bezugsrahmen in Musils Schreiben, wobei der Autor 399
Zusammenfassung |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440