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verständliche physiologische Vorgänge ab, die den Zuschauern auf den Rängen
ohne viel Nachdenkens plausibel erscheinen: Boxer streben eine Form von Re-
flexionsstopp zweiter Hand an – Gedankenstrom und mentale Assoziationen
sollen dabei, ehest im Moment der Attacke, blitzartig abreißen. Der koordi-
nierte Ablauf sportlicher Bewegung entzieht sich momentlang der Kontrolle,
im Wirbeln von Kontingenz und Kräftespiel eröffnen sich neue Möglichkeiten:
Boxen findet nicht abgekoppelt von den Binnenräumen des Psychischen statt;
auf jene Prozesse, die das Bild des Boxens formen, wirken Faktoren des Inneren
und Äußeren ein. Indem Musil den diskursiven Kurzschluss zwischen Innen
und Außen, Denken und Körper wagt, erschließt er nicht nur dem Sport neue
Reflexionsräume: Ulrich im Mann ohne Eigenschaften erschließt über den Hebel
betonter Körperlichkeit Rückschlüsse auf die Gesetze der Persönlichkeit. Musil
hinterfragt das psychotechnische Telos körperlicher Organisation und geistiger
Optimierung, das Mit- und Ineinander von Körper und Geist, das in der Gestalt
des Boxers in der Zeit der Weimarer Republik seinen maßgeblichen Ausdrucks-
träger findet. Das auf Konkurrenz und Kräftemessen geschrumpfte Phänomen,
das in vielen Schriften der Zeit in kombattantes Pathos kippt und in ideologi-
schen Schemata feststeckt, beschreibt Musil als eine zentrale Disposition, wel-
che die positive Ekstase des Denkens in körperkulturellen und leibseelischen
Zusammenhängen aufblitzten lässt. Ulrich im Mann ohne Eigenschaften bewährt
sich in Lebenskampf und Straßengefecht keineswegs als Boxer. Er bewegt sich
vielmehr auf dem weiten Diskurs- und Assoziationsfeld des Sports, auf dem
er, losgelöst von Ringrunden und Boxsport-Popanz, als Daseinssportler agieren
kann. In der Figur Ulrichs laufen die Diskursstränge Ratio, Körper, Training,
Männlichkeit, Mystik und Psychotechnik in hochkomplexer Ordnung zusam-
men. Musil nimmt Boxen als Experimentierareal der Moderne ernst. Er legt
im Mann ohne Eigenschaften die diskursiven, körperkulturellen ideengeschicht-
lichen Wurzeln des Faustsports weitestgehend offen. Deren verästeltes Wurzel-
werk durchziehen, wenn man so will, die Vorstellungen modernen Denkens bis
heute. Insofern schlägt Faust und Geist nichts weniger als eine neue Detaillesart
von Musils Monumentalroman vor: Ulrich ist wie die Boxerfigur selbst aus dem
Schlüsselfigurenarsenal der Moderne nicht mehr wegzudenken. 401
Zusammenfassung |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440