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Volksstamines kann also nicht leicht die Rede sein, zuuial sich die sonst differirendstcn
Stimmen in diesem einen Pnntte immer harmonisch einigen. Stand und steht es demnach
wirklich so arg? Auch in ernstesten Zeitläuften? lind haben alle diese harten Ankläger nie
übertrieben? Nun, es ist ja auch denkbar, daß der bitterste Tadel oft nur in ehrlichster
Absicht ausgesprochen wurde, etwa nur als Warnung, mn den leicht Erreg- und Verführ-
bareu vor geistiger Apathie und moralischer Versumpfung zu bewahren. Im Spiegelbilds
sich zu schanen ist ja mitunter die heilsamste Medizin und bewog Manchen zur Umkehr aus
den Irrgängen seines bisherigen Wandels.
Wohl „unterhält" sich der Wiener gerne und inacht nicht viel Federlesens und
kennt auch wenige Scrnpel, mn seinein Triebe, seinem Gelüste, seinem Verlangen, seinem
nicht zn bannenden Wnnsche — wenn schon nicht „der Welt ein Loch zn schlagen",
so doch während einiger Tages- oder Nachtstunden fich zu vergnügen, zu erlustigcn, zu
ergötze» — fröhuen zu lönnen. Namentlich, wenn es sich um einen „Jux", eine „Hetze"
oder um fein Hanptfaiblei einen „Ausflug" in Wald und Flur. einen „Rutscher über
Land" handelt.
Und da muß denn gleich vorwegs die fatale Thatfache constatirt werden, daß bei dem
Original-Wiener — wir sprechen immer Uom „Volte" in der eigentlichen Bedeutung des
Wortes — der Sinn für Häuslichkeit, der Hang und die Neigung für ein abendliches
Veifauimenfein im „traulichen Heim" nicht sonderlich ausgedrückt ist. Wohl gibt es dort
und da, und gar, wo die Armuth und der Mangel zur Einschränkung und zn Ent-
behrungen zwingt, Seenen und Bilder innigsten Familienlebens, die dem Beschauer au's
Herz gehen und ihm Achtung und Bewunderung abringen, wenn er sieht, bis zu welchem
Grade von Heroisinns die rührendste Genügsamkeit sich steigern kann; wie selbst Leid und
Unglück, Elend nnd Noth die Bande gegenfeitiger Liebe nnr noch fester knüpfen; wie in
der selbstlosen Aufopferung des Eincu das Andere seine Tröstung und seiu Beispiel findet
und man nnr in der gemeinsamen Ertragung der unerbittlichen Schicksalsschläge deren
Härte nnd Schwere weniger zu fühlen glaubt. Uud so ist unter Edelsinnigen oft das
Unglück der Kitt, der die Leutchen unzertrennbar zusammenhält. Aber im Allgemeinen nnd
in der Mehrheit uud unter gewöhnlichen Verhältnissen nnd Umständen ist der Wiener —
ein Ausläufer, der nicht nur in besonderen Fälleu einem plötzlichen internen Verdruß
oder etwaigem Jammer nud etlicher Trübsal, die ihn zwischen seinen vier Wändeu zu
erwarten drohen, gerne entflieht, um auswärts und unter Gleichgesinnten Trost und
Stärkung zn fuchen und zu finden, er ist vielmehr überhaupt eiu beständiger und passionirter
häuslicher Flüchtling, ein Wirthshausgeher püi' exc^üeilc?. der das Kneipeulebcn mit
Leidenschaft cultivirt und auf der Bierbank und im muffigen Weinkeller einen starten
Vruchtheil seines irdifcheu Daseins versah und — versitzt.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Volume 1
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Volume
- 1
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1886
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.13 x 22.72 cm
- Pages
- 348
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch
Table of contents
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277