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Fanatiker mit ihren Gegnern sich allabendlich prügelten, so ziemlich vorüber ist, in dem durch
„sinnlos materielles Genußlebcn" angeblich geistig „verflachten" Wien doch noch immer
eine ansehnliche Gemeinde wahrhafter und verständiger und gebildeter Kunstfreunde beiderlei
Geschlechtes. Und es sind brave, gediegene Leute honorigsten Charakters und sinniger
Denkweise, die von dem Trubel der seichten Spaßmachcrci, von dem wüsten Lärm und
Gejohle und Gedusel der Schlemmer und Zecher sich regelmäßig und sorgfältig absondern
und dafür dort sich einzufinden pflegen, wo nicht speciell Bacchus undGambrinus, wohl aber
den Musen ihre Tempel errichtet wurden.
Und eben deßhalb ist auch ein gewisses Gruppenbild, eine bekannte „öffentlicheScene",
so sehr auch von vielen Seiten gelacht nnd die Sache sogar zum Ergötzen nicht nur des
„gemeinen Mannes", vielmehr auch der sogenannt „gebildeten Stände" vor aller Welt
drastisch parodirt und verhöhnt wurde, nach dem Dafürhalten Andersdenkender viel eher
erfreulich und herzerhebend als der schnöden Verspottung würdig. Wir meinen das
Schauspiel des „kalten Fegefeuers", das uns allwöchentlich meist ein paarmal eine Anzahl
beherzter Jünglinge und muthiger Jungfrauen bietet, eine Schar liebenswerther Theater-
Enthusiasten, die im Stande find, fünf bis sechs Stunden, bei jeder Art Wetter und auch
in bitterster Kälte vor den Pforten des Schaufpielhaufes, inmitten eines dichten Knäuels
gleich gesinnter Idealisten das Textbuch der Oper oder die Reelam'fche Zehnkrenzerausgabe
des Tagesclassikers emsig studirend. in Geduld auszuharren, bis endlich der „Einlaß"
in ihr Allerheiligstes gestattet ist, wo erst ein uierthalbstündiger ästhetischer Gennß
ihre freudigste Ausdauer belohnt. Blasirte Flaneure, geschäfts- oder Wirthshaus eilige
Passanten lächeln zu solchem Treiben und witzeln über derlei theatralische Heißsporne und
Komödien-Fexe — wir glauben, mau sollte viel lieber von solcher Hingebung erbaut sein.
Und erbaulich ist ja dann auch der Ausblick zum „Olymp" im Innern des Hauses, wo
diese „Glücklichen", zwar abermals Kopf an Kopf gepreßt, zuschauen, aber iu hehrer
Bewunderung versunken, in Entzücken aufgelöst sind, und wo hin und wieder sogar das
Gegenstück dieser Bezauberten, eine ehrbare Grundpatrizierin, welcher die Schiller'schen
Iamben und die Grillparzer'fchen Trochäen „zu hoch" und die Leiden und Klagen Isabellens,
Neatricens, Iphigeniens und Melittas ganz unverständlich find, als vereinzelte Schläferin
und leise Schnarcherin die schöne Wirkung des Gesammtbildes nicht zu stören vermag.
Ja. noch immer stellt die verschriene Stadt des „crassesten Materialismus", der
Frivolität uud Leichtlebigkeit, eine starke Besatzung von Verehrern des Schönen und Edlen,
und zwar aus der Mitte des Volkes, und die Theater wäre« heute noch, wie Anno daznmal,
allabendlich gefüllt und überfüllt, wenn — Manches anders sein würde.
Zuerst kam die schwere Verthcuerung dieses Vergnügens, dessen Beschaffung für
sich und seine Angehörigen dem einfachen Kleinbürger, dem wenigbemittelten Geschäfts-
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien, Volume 1
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Wien und Niederösterreich, 1. Abteilung: Wien
- Volume
- 1
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1886
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.13 x 22.72 cm
- Pages
- 348
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch
Table of contents
- Landschaftliche Lage Wiens 3
- Zur Geschichte Wiens 5
- Wiens architektonische Entwicklung 51
- Wiener Volksleben 91
- Die Musik in Wien 123
- Die deutsche Literatur in Wien und Niederösterreich 139
- Das Wiener Schauspiel 169
- Malerei und Plastik in Wien 205
- Wiener Kunstindustrie 263
- Voltswirthschaftliches Leben in Wien 277