Page - 55 - in Radetzkymarsch
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Petroleumlampen mit den großen, weißen Schirmen im gleichmäßigen
Rhythmus irgendwelcher Wellen eines unbekannten Ozeans. Die Leute
sangen Lieder in einer unbekannten Sprache, in einer slawischen Sprache. Die
alten Bauern von Sipolje hätten sie wohl verstanden! Der Großvater Carl
Josephs noch hätte sie vielleicht verstanden! Sein rätselhaftes Bildnis
verdämmerte unter dem Suffit des Herrenzimmers. An dieses Bildnis
klammerte sich die Erinnerung Carl Josephs als an das einzige und letzte
Zeichen, das ihm die unbekannte, lange Reihe seiner Vorfahren vermacht
hatte. Ihr Nachkomme war er. Seitdem er zum Regiment eingerückt war,
fühlte er sich als der Enkel seines Großvaters, nicht als der Sohn seines
Vaters; ja, der Sohn seines merkwürdigen Großvaters war er. Ohne Unterlaß
bliesen sie drüben die Mundharmonika. Er konnte deutlich die Bewegungen
der groben, braunen Hände sehen, die das blecherne Instrument vor den roten
Mündern hin- und zurückschoben, und hie und da das Aufblinken des
Metalls. Die große Wehmut dieser Instrumente strömte durch die
geschlossenen Fenster in das schwarze Rechteck des Hofes und erfüllte die
Finsternis mit einer lichten Ahnung von Heimat und Weib und Kind und Hof.
Daheim wohnten sie in niedrigen Hütten, befruchteten nächtens die Frauen
und tagsüber die Felder! Weiß und hoch lag winters der Schnee um ihre
Hütten. Gelb und hoch wogte im Sommer das Korn um ihre Hüften. Bauern
waren sie, Bauern! Nicht anders hatte das Geschlecht der Trottas gelebt!
Nicht anders!…
Weit vorgeschritten war schon der Herbst. Wenn man am Morgen aufsaß,
tauchte die Sonne wie eine blutrote Orange am Ostrand des Himmels auf.
Und wenn die Gelenksübungen auf der Wasserwiese begannen, in der breiten,
grünlichen Lichtung, umrandet von schwärzlichen Tannen, erhoben sich
schwerfällig die silbrigen Nebel, auseinandergerissen von den heftigen,
regelmäßigen Bewegungen der dunkelblauen Uniformen. Blaß und
schwermütig stieg dann die Sonne empor. Zwischen das schwarze Geäst
brach ihr mattes Silber, kühl und fremd. Der frostige Schauer strich wie ein
grausamer Kamm über die rostbraunen Felle der Rösser; und ihr Wiehern
kam aus der nachbarlichen Lichtung, ein schmerzlicher Ruf nach Heimat und
Stall. Man machte »Übungen mit dem Karabiner«. Carl Joseph konnte kaum
die Rückkehr in die Kaserne abwarten. Er fürchtete die Viertelstunde »Rast«,
die gegen zehn Uhr pünktlich eintrat, und das Gespräch mit den Kameraden,
die sich manchmal in der nahen Wirtschaft zusammenfanden, um ein Bier zu
trinken und den Obersten Kovacs zu erwarten. Noch peinlicher war der
Abend im Kasino. Bald brach er an. Es war Pflicht zu erscheinen. Schon
näherte sich die Stunde des Zapfenstreichs. Schon durcheilten die
dunkelblauen, klirrenden Schatten der heimkehrenden Mannschaften das
finstere Rechteck des Kasernenhofes. Schon trat drüben der Wachtmeister
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik