Page - 70 - in Radetzkymarsch
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Hände vor den Mündern. Er nickte nur. Er hatte verstanden. Er bewilligte die
Wünsche seiner Kundschaft, als wären sie Gnaden und als würden sie ihm
nicht in baren, harten Münzen bezahlt. Mit kräftigen Händen spannte er selbst
die Pferde aus und führte sie in die Ställe. Und während seine Töchter den
Gästen in der breiten, niedrigen Gaststube Branntwein mit getrockneten und
gesalzenen Erbsen verabreichten, fütterte er mit begütigendem Zuspruch
draußen die Tiere. Am Samstag saß er gebeugt über großen und frommen
Büchern. Sein silberner Bart bedeckte die untere Hälfte der
schwarzbedruckten Seiten. Wenn er gewußt hätte, daß sein Enkel einmal in
der Uniform eines Offiziers und mörderisch bewaffnet durch die Welt
spazieren würde, hätte er sein Alter verflucht und die Frucht seiner Lenden.
Schon sein Sohn, Doktor Demants Vater, der mittlere Postbeamte, war dem
Alten nur ein zärtlich geduldeter Greuel. Die Schenke, von Urvätern her
vermacht, mußte den Töchtern und den Schwiegersöhnen überlassen bleiben;
während die männlichen Nachkommen bis in die fernste Zukunft Beamte,
Gebildete, Angestellte und Dummköpfe zu bleiben bestimmt waren. Bis in
die fernste Zukunft: Das paßte allerdings nicht! Der Regimentsarzt hatte keine
Kinder. Er wünschte sich auch keine … Seine Frau nämlich –
An dieser Stelle pflegte Doktor Demant seine Erinnerungen abzubrechen.
Er dachte an seine Mutter: Sie lebte in ständiger, hastiger Suche nach
irgendwelchen Nebeneinnahmen. Der Vater sitzt nach der Dienstzeit im
kleinen Kaffeehaus. Er spielt Tarock und verliert und bleibt die Zeche
schuldig. Er wünscht, daß der Sohn vier Mittelschulklassen absolviere und
dann Beamter werde; bei der Post natürlich. »Du willst immer hoch hinaus!«
sagt er zur Mutter. Er hält, mag sein ziviles Leben noch so unordentlich sein,
eine lächerliche Ordnung in alle Requisiten, die er aus der Militärzeit
mitgebracht hat. Seine Uniform, die Uniform eines »längerdienenden
Rechnungsunteroffiziers«, mit den goldenen Ecken an den Ärmeln, den
schwarzen Hosen und dem Infanterietschako, hängt im Schrank wie eine in
drei Teile zerlegte und immer noch lebendige Persönlichkeit, mit leuchtenden,
jede Woche frisch geputzten Knöpfen. Und der schwarze, gebogene Säbel mit
dem gerippten, ebenfalls jede Woche aufgefrischten Griff liegt quer, von zwei
Nägeln gehalten, an der Wand über dem nie benutzten Schreibtisch, mit lässig
baumelnder, goldgelber Troddel, die an eine knospenhaft geschlossene und
etwas verstaubte Sonnenblume erinnert. »Wenn du nicht gekommen wärst«,
sagt der Vater zur Mutter, »hätt’ ich die Prüfung gemacht und wäre heute
Rechnungshauptmann.« An Kaisers Geburtstag zieht der Postoffiziant
Demant seine Beamtenuniform an, mit Krappenhut und Degen. An diesem
Tage spielt er nicht Tarock. Jedes Jahr an Kaisers Geburtstag nimmt er sich
vor, ein neues, schuldenfreies Leben zu beginnen. Er betrinkt sich also. Und
er kommt spät in der Nacht heim, zieht in der Küche seinen Degen und
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book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik