Page - 88 - in Radetzkymarsch
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Und er fühlte, daß die Toten die Lebenden riefen, und ihm war, als würde er
selbst morgen schon, sieben Uhr zwanzig, zum Duell antreten. Zum Duell
antreten und fallen. Fallen! Fallen und sterben!
An jenen längst entschwundenen Sonntagen, an denen Carl Joseph auf dem
väterlichen Balkon gestanden war und die Militärkapelle Herrn Nechwals den
Radetzkymarsch intoniert hatte, wäre es eine Kleinigkeit gewesen, zu fallen
und zu sterben! Dem Zögling der kaiser- und königlichen
Kavalleriekadettenanstalt war der Tod vertraut gewesen, aber es war ein sehr
ferner Tod gewesen! Morgen früh, sieben Uhr zwanzig, wartete der Tod auf
den Freund, den Doktor Demant. Übermorgen, oder in einigen Tagen, auf den
Leutnant Carl Joseph von Trotta. O, Graus und Finsternis! Anlaß seiner
schwarzen Ankunft zu sein und endlich sein Opfer zu werden! Und sollte man
selbst nicht sein Opfer werden, wie viele Leichen lagen noch unterwegs? Wie
Meilensteine auf den Wegen anderer lagen die Grabsteine auf dem Wege
Trottas! Es war gewiß, daß er den Freund nie mehr wiedersehn würde, wie er
Katharina nicht mehr gesehn hatte. Niemals! Vor den Augen Carl Josephs
dehnte sich dieses Wort ohne Ufer und Grenze, ein totes Meer der tauben
Ewigkeit. Der kleine Leutnant ballte die weiße, schwache Faust gegen das
große, schwarze Gesetz, das die Leichensteine heranrollte, der
Unerbittlichkeit des Niemals keinen Damm setzte und die ewige Finsternis
nicht erhellen wollte. Er ballte seine Faust, trat zum Fenster, um sie gegen den
Himmel zu erheben. Aber er erhob nur seine Augen. Er sah das kalte
Flimmern der winterlichen Sterne. Er erinnerte sich an die Nacht, in der er
zum letztenmal mit Doktor Demant zusammen gegangen war, von der
Kaserne zur Stadt. Zum letztenmal, er hatte es damals gewußt.
Plötzlich überfiel ihn ein Heimweh nach dem Freund; und auch die
Hoffnung, daß es noch möglich sei, den Doktor zu retten! Es war ein Uhr
zwanzig. Sechs Stunden hatte Doktor Demant bestimmt noch zu leben, sechs
große Stunden. Diese Zeit erschien dem Leutnant jetzt beinahe so mächtig
wie vorher die uferlose Ewigkeit. Er stürzte zum Kleiderhaken, schnürte den
Säbel um und fuhr in den Mantel, eilte den Korridor entlang und schwebte
fast die Treppe hinunter, jagte über das nächtliche Viereck des Hofes zum Tor
hinaus, am Posten vorbei, lief durch die stille Landstraße, erreichte in zehn
Minuten das Städtchen und eine Weile später den einzigen Schlitten, der
einsamen Nachtdienst hatte, und glitt unter tröstlichem Geklingel gegen den
Südrand der Stadt, der Villa des Doktors zu. Hinter dem Gitter schlief das
Häuschen mit blinden Fenstern. Trotta drückte die Klingel. Alles blieb still.
Er schrie den Namen Doktor Demants. Nichts rührte sich. Er wartete. Er ließ
den Kutscher mit der Peitsche knallen. Niemand gab Antwort.
Wenn er den Grafen Tattenbach gesucht hätte, es wäre leicht gewesen, ihn
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik