Page - 114 - in Radetzkymarsch
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für Fremde. Sie waren bescheiden. Sie lebten so kümmerlich, als erhielten sie
sich von der Arbeit ihrer Hände. Aber es war die Arbeit anderer. Stets in
Bewegung, immer unterwegs, mit geläufiger Zunge und hellem Gehirn,
wären sie geeignet gewesen, eine halbe Welt zu erobern, wenn sie gewußt
hätten, was die Welt bedeutet. Aber sie wußten es nicht. Denn sie lebten fern
von ihr, zwischen dem Osten und dem Westen, eingeklemmt zwischen Nacht
und Tag, sie selbst eine Art lebendiger Gespenster, welche die Nacht geboren
hat und die am Tage umgehn.
Sagten wir: Sie hätten »eingeklemmt« gelebt? Die Natur ihrer Heimat ließ
es sie nicht fühlen. Die Natur schmiedete einen unendlichen Horizont um die
Menschen an der Grenze und umgab sie mit einem edlen Ring aus grünen
Wäldern und blauen Hügeln. Und gingen sie durch das Dunkel der Tannen, so
konnten sie sogar glauben, von Gott bevorzugt zu sein; wenn sie die tägliche
Sorge um das Brot für Weib und Kinder die Güte Gottes hätte erkennen
lassen. Sie aber gingen durch die Tannenwälder, um Holz für die städtischen
Käufer einzuhandeln, sobald der Winter herannahte. Denn sie handelten auch
mit Holz. Sie handelten übrigens mit Korallen für die Bäuerinnen der
umliegenden Dörfer und auch für die Bäuerinnen, die jenseits der Grenze, im
russischen Lande, lebten. Sie handelten mit Bettfedern, mit Roßhaaren, mit
Tabak, mit Silberstangen, mit Juwelen, mit chinesischem Tee, mit
südländischen Früchten, mit Pferden und Vieh, mit Geflügel und Eiern, mit
Fischen und Gemüse, mit Jute und Wolle, mit Butter und Käse, mit Wäldern
und Grundbesitz, mit Marmor aus Italien und Menschenhaaren aus China zur
Herstellung von Perücken, mit Seidenraupen und mit fertiger Seide, mit
Stoffen aus Manchester, mit Brüsseler Spitzen und mit Moskauer Galoschen,
mit Leinen aus Wien und Blei aus Böhmen. Keine von den wunderbaren und
keine von den billigen Waren, an denen die Welt so reich ist, blieb den
Händlern und Maklern dieser Gegend fremd. Was sie nach den bestehenden
Gesetzen nicht bekommen oder verkaufen konnten, verschafften sie sich und
verkauften sie gegen jedes Gesetz, flink und geheim, mit Berechnung und
List, verschlagen und kühn. Ja, manche unter ihnen handelten mit Menschen,
mit lebendigen Menschen. Sie verschickten Deserteure der russischen Armee
nach den Vereinigten Staaten und junge Bauernmädchen nach Brasilien und
Argentinien. Sie hatten Schiffsagenturen und Vertretungen fremdländischer
Bordelle. Und dennoch waren ihre Gewinste kümmerlich, und sie hatten
keine Ahnung von dem breiten und prächtigen Überfluß, in dem ein Mann
leben kann. Ihre Sinne, so geschliffen und geübt, Geld zu finden, ihre Hände,
die Gold aus Schottersteinen schlagen konnten, wie man Funken aus Steinen
schlägt, waren nicht fähig, den Herzen Genuß zu verschaffen und den Leibern
Gesundheit. Sumpfgeborene waren die Menschen dieser Gegend. Denn die
Sümpfe lagen unheimlich ausgebreitet über der ganzen Fläche des Landes, zu
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book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik