Page - 121 - in Radetzkymarsch
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er von einem geheimnisvollen, längst verstorbenen Spieler ein zuverlässiges
»System« geerbt hatte.
Seit Jahren war er Reichsratsabgeordneter, regelmäßig wiedergewählt von
seinem Bezirk, alle Gegenkandidaten schlagend mit Geld, Gewalt und
Überrumpelung, Günstling der Regierung und Verächter der
parlamentarischen Körperschaft, der er angehörte. Er hatte nie eine Rede
gehalten und nie einen Zwischenruf getan. Ungläubig, spöttisch, furchtlos und
ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankenloser
Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine
Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden
bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer
und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene
Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten
und Slowenen, die er »Krowoten und Schlawiner« nannte, Bürstenbinder und
Maronibrater, und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher,
Friseure und Modephotographen. Nach jeder Rückkehr aus Wien und den
andern Teilen der großen Welt, in der er sich heimisch tummelte, pflegte er
einen düsteren Vortrag zu halten, der etwa so lautete: »Dieses Reich muß
untergehn. Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert
Stücke. Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre
dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König
in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich
kann’s auf der Ringstraße nicht mehr aushalten. Die Arbeiter haben rote
Fahnen und wollen nicht mehr arbeiten. Der Bürgermeister von Wien ist ein
frommer Hausmeister. Die Pfaffen gehn schon mit dem Volk, man predigt
tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke,
und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag’ euch,
meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist’s aus. Wir werden’s noch
erleben!«
Die Zuhörer des Grafen lachten und tranken noch eins. Sie verstanden ihn
nicht. Man schoß gelegentlich, besonders bei den Wahlen, um dem Grafen
Chojnicki zum Beispiel das Mandat zu sichern, und zeigte also, daß die Welt
nicht ohne weiteres untergehn konnte. Der Kaiser lebte noch. Nach ihm kam
der Thronfolger. Die Armee exerzierte und leuchtete in allen
vorschriftsmäßigen Farben. Die Völker liebten die Dynastie und huldigten ihr
in den verschiedensten Nationaltrachten. Chojnicki war ein Witzbold.
Der Leutnant Trotta aber, empfindlicher als seine Kameraden, trauriger als
sie und in der Seele das ständige Echo der rauschenden, dunklen Fittiche des
Todes, dem er schon zweimal begegnet war: Der Leutnant spürte zuweilen
das finstere Gewicht der Prophezeiungen.
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik