Page - 126 - in Radetzkymarsch
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»mehr Rechte« verlangte, nur geringgeschätzt. Allmählich begann er, sie zu
hassen, die Schreiner, die Brandstifter, die Wahlredner. Er schärfte dem
Bezirkskommissär ein, jede Versammlung sofort aufzulösen, in der man es
sich etwa einfallen ließ, »Resolutionen« zu fassen. Von allen in der letzten
Zeit modern gewordenen Worten haßte er dieses am stärksten; vielleicht, weil
es nur eines winzigen andern Buchstabens bedurfte, um in das schändlichste
aller Worte verwandelt zu werden: in Revolution. Dieses hatte er vollends
ausgerottet. In seinem Sprachschatz, auch im dienstlichen, kam es nicht vor;
und wenn er in dem Bericht eines seiner Untergebenen etwa die Bezeichnung
»revolutionärer Agitator« für einen der aktiven Sozialdemokraten las, so
strich er dieses Wort und verbesserte mit roter Tinte: »verdächtiges
Individuum«. Vielleicht gab es irgendwo in der Monarchie Revolutionäre: Im
Bezirk des Herrn von Trotta kamen sie nicht vor.
»Schicken Sie mir nachmittags den Wachtmeister Slama!« sagte Herr von
Trotta zum Kommissär. »Verlangen Sie für diese Sokoln
Gendarmerieverstärkung. Schreiben Sie einen kurzen Bericht für die
Statthalterei, geben Sie ihn mir morgen. Vielleicht mĂĽssen wir uns mit der
Militärbehörde in Verbindung setzen. Der Gendarmerieposten hat jedenfalls
ab morgen Bereitschaft. Ich möchte gern einen knappen Auszug aus dem
letzten Ministerialerlaß betreffend Bereitschaft haben.«
»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann!«
»So. Ist der Doktor Sribny schon dagewesen?«
»Er ist gleich zu Jacques gerufen worden.«
»Ich hätte ihn gern gesprochen.«
Der Bezirkshauptmann berĂĽhrte heute kein AktenstĂĽck mehr. Damals, in
den ruhigen Jahren, als er angefangen hatte, sich in der
Bezirkshauptmannschaft einzurichten, hatte es noch keine Autonomisten,
keine Sozialdemokraten und verhältnismäßig wenig »verdächtige Individuen«
gegeben. Es war auch im langsamen Laufe der Jahre kaum zu merken, wie sie
wuchsen, sich ausbreiteten und gefährlich wurden. Es war nun dem
Bezirkshauptmann, als machte ihn erst die Erkrankung Jacques’ mit einemmal
auf die grausamen Veränderungen der Welt aufmerksam und als bedrohte der
Tod, der jetzt am Bettrand des alten Dieners sitzen mochte, nicht diesen
allein. Wenn Jacques stirbt, fiel es dem Bezirkshauptmann ein, so stirbt
gewissermaßen der Held von Solferino noch einmal und vielleicht – und hier
stockte eine Sekunde das Herz des Herrn von Trotta – derjenige, den der Held
von Solferino vor dem Tode bewahrt hatte. Oh! Nicht nur Jacques war heute
krank geworden! Uneröffnet lagen noch die Briefe vor dem
Bezirkshauptmann auf dem Schreibtisch: Wer weiĂź, was sie enthalten
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Ă–sterreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik