Page - 144 - in Radetzkymarsch
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Der Bezirkshauptmann erhob sich. Niemals hätte er geglaubt, daß es einen
Menschen in der Welt gebe, der sagen könnte, Gott habe den Kaiser
verlassen. Dennoch schien ihm, der zeit seines Lebens die Angelegenheiten
des Himmels den Theologen überlassen und im übrigen die Kirche, die
Messe, die Zeremonie am Fronleichnamstag, den Klerus und den lieben Gott
für Einrichtungen der Monarchie gehalten hatte, auf einmal der Satz des
Grafen alle Wirrnis zu erklären, die er in den letzten Wochen und besonders
seit dem Tode des alten Jacques gefühlt hatte. Gewiß, Gott hatte den alten
Kaiser verlassen! Der Bezirkshauptmann machte ein paar Schritte, unter
seinen Füßen knarrten die alten Dielen. Er trat zum Fenster und sah durch die
Ritzen der Jalousien die schmalen Streifen der dunkelblauen Nacht. Alle
Vorgänge der Natur und alle Ereignisse des täglichen Lebens erhielten auf
einmal einen bedrohlichen und unverständlichen Sinn. Unverständlich war
der wispernde Chor der Grillen, unverständlich das Flimmern der Sterne,
unverständlich das samtene Blau der Nacht, unverständlich war dem
Bezirkshauptmann seine Reise an die Grenze und sein Aufenthalt bei diesem
Grafen. Er kehrte an den Tisch zurück, mit der Hand strich er einen Flügel
seines Backenbartes, wie er es zu tun pflegte, wenn er ein wenig ratlos war.
Ein wenig ratlos! So ratlos wie jetzt war er nie gewesen!
Vor ihm stand noch ein volles Glas. Er trank es schnell. »Also«, sagte er,
»glauben Sie, glauben Sie, daß wir – –«
»verloren sind«, ergänzte Chojnicki. »Verloren sind wir, Sie und Ihr Sohn
und ich. Wir sind, sage ich, die Letzten einer Welt, in der Gott noch die
Majestäten begnadet und Verrückte wie ich Gold machen. Hören Sie! Sehen
Sie!« Und Chojnicki erhob sich, ging an die Tür, drehte einen Schalter, und an
dem großen Lüster erstrahlten die Lampen. »Sehen Sie!« sagte Chojnicki,
»dies ist die Zeit der Elektrizität, nicht der Alchimie. Der Chemie auch,
verstehen Sie! Wissen Sie, wie das Ding heißt? Nitroglyzerin«, der Graf
sprach jede einzelne Silbe getrennt aus. »Nitroglyzerin!« wiederholte er.
»Nicht mehr Gold! Im Schloß Franz Josephs brennt man oft noch Kerzen!
Begreifen Sie? Durch Nitroglyzerin und Elektrizität werden wir zugrunde
gehn! Es dauert gar nicht mehr lang, gar nicht mehr lang!«
Der Glanz, den die elektrischen Lampen verbreiteten, weckte an den
Wänden auf den Regalen grüne, rote und blaue, schmale und breite zitternde
Reflexe in den Glasröhren. Still und blaß saß Carl Joseph da. Er hatte die
ganze Zeit getrunken. Der Bezirkshauptmann sah zum Leutnant hin. Er
dachte an seinen Freund, den Maler Moser. Und da er selbst schon getrunken
hatte, der alte Herr von Trotta, erblickte er, wie in einem sehr entfernten
Spiegel, das blasse Abbild seines betrunkenen Sohnes unter den grünen
Bäumen des Volksgartens, mit einem Schlapphut am Kopfe, einer großen
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik