Page - 146 - in Radetzkymarsch
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blutlosen, halboffenen Lippen des Leutnants und seine harte, vorspringende,
knöcherne Nase. »Er schläft gut!« sagte er zum Bezirkshauptmann. Beide
kamen sich vor wie zwei Väter des Leutnants. Den Bezirkshauptmann
ernüchterte der Nachtwind, aber eine unbestimmte Furcht nistete noch in
seinem Herzen. Er sah die Welt untergehn, und es war seine Welt. Lebendig
saß ihm gegenüber Chojnicki, allem Anschein nach ein lebendiger Mensch,
dessen Knie sogar manchmal an das Schienbein Herrn von Trottas stießen,
und dennoch unheimlich. Der alte Trommelrevolver, den Herr von Trotta
mitgenommen hatte, drückte in der rückwärtigen Hosentasche. Was sollte da
ein Revolver! Man sah keine Bären und keine Wölfe an der Grenze! Man sah
nur den Untergang der Welt!
Der Wagen hielt vor dem gewölbten, hölzernen Tor. Der Kutscher knallte
mit der Peitsche. Die zwei Flügel des Tores gingen auf, und gemessen
schritten die Schimmel die sachte Steigung hinan. Aus der ganzen
Fensterfront fiel gelbes Licht auf den Kies und auf die Grasflächen zu beiden
Seiten des Weges. Man hörte Stimmen und Klavierspiel. Es war ohne Zweifel
ein »großes Fest«.
Man hatte bereits gegessen. Die Lakaien liefen mit großen, buntfarbigen
Schnäpsen umher. Die Gäste tanzten, spielten Tarock und Whist, tranken, dort
hielt einer eine Rede vor Menschen, die ihm nicht zuhörten. Einige torkelten
durch die Säle, andere schliefen in den Ecken. Es tanzten nur Männer
miteinander. Die schwarzen Salonblusen der Dragoner preßten sich an die
blauen der Jäger. In den Zimmern des »neuen Schlosses« ließ Chojnicki
Kerzen brennen. Aus mächtigen, silbernen Leuchtern, die auf steinernen
Wandbrettern und Vorsprüngen aufgestellt waren, oder von Lakaien, die jede
halbe Stunde abwechselten, gehalten wurden, wuchsen die schneeweißen und
wachsgelben dicken Kerzen. Ihre Flämmchen zitterten manchmal im
nächtlichen Wind, der durch die offenen Fenster daherzog. Wenn für ein paar
Augenblicke das Klavier schwieg, hörte man die Nachtigallen schlagen und
die Grillen wispern und von Zeit zu Zeit die Wachstränen mit sachten
Schlägen auf das Silber tropfen.
Der Bezirkshauptmann suchte seinen Sohn. Eine namenlose Angst trieb
den Alten durch die Zimmer. Sein Sohn – wo war er? Weder unter den
Tänzern noch unter den betrunken Dahertorkelnden, noch unter den Spielern,
noch unter den älteren, gesitteten Männern, die da und dort in den Winkeln
miteinander sprachen. Allein saß der Leutnant in einem abgelegenen Zimmer.
Die große, bauchige Flasche stand zu seinen Füßen, treu und halb geleert. Sie
sah neben dem schmalen und zusammengesunkenen Trinker allzu mächtig
aus, beinahe, als könnte sie den Trinker verschlingen. Der Bezirkshauptmann
stellte sich vor dem Leutnant auf, die Spitzen seiner schmalen Stiefel
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik