Page - 155 - in Radetzkymarsch
Image of the Page - 155 -
Text of the Page - 155 -
Bahnhof zumHotel, vom Hotel zur Grenze und wieder zurück ins Städtchen.
Die verdrossenen Händler lächelten. Lichter schienen die dunklen Läden zu
werden, bunter die ausgelegten Waren, Nacht für Nacht sang die »Nachtigall
von Mariahilf«. Und als hätte ihr Gesang noch andere Schwestern geweckt,
kamen nie gesehene, neue, geputzte Mädchen ins Café. Man rückte die Tische
auseinander und tanzte zu den Walzern von Lehár. Die ganze Welt war
verändert. –
Ja, die ganze Welt! An anderen Stellen zeigten sich sonderbare Plakate, wie
man sie hierorts noch niemals gesehen hat. In allen Landessprachen fordern
sie die Arbeiter der Borstenfabrik auf, die Arbeit niederzulegen. Die
Borstenfabrikation ist die einzige, armselige Industrie dieser Gegend. Die
Arbeiter sind arme Bauern. Ein Teil von ihnen lebt im Winter vom
Holzhacken, im Herbst von Erntearbeiten. Im Sommer müssen alle in die
Borstenfabrik. Andere kommen aus den niederen Schichten der Juden. Sie
können nicht rechnen und nicht handeln, sie haben auch kein Handwerk
gelernt. Weit und breit, wohl zwanzig Meilen in der Runde, gibt es keine
andere Fabrik.
Für die Herstellung von Borsten bestanden unbequeme und kostspielige
Vorschriften; die Fabrikanten hielten sie nicht gerne ein. Man mußte Staub
und Bazillen absondernde Masken für die Arbeiter anschaffen, große und
lichte Räume anlegen, die Abfälle zweimal täglich verbrennen lassen und
anstelle der Arbeiter, die zu husten anfingen, andere aufnehmen. Denn alle,
die sich mit der Reinigung der Borsten abgaben, begannen nach kurzer Zeit,
Blut zu spucken. Die Fabrik war ein altes, baufälliges Gemäuer mit kleinen
Fenstern, einem schadhaften Schieferdach, umzäunt von einer
wildwuchernden Weidenhecke und umgeben von einem wüsten, breiten Platz,
auf dem seit undenklichen Jahren Mist abgelagert wurde, tote Katzen und
Ratten der Fäulnis ausgeliefert waren, Blechgeschirre rosteten, zerbrochene
irdene Töpfe neben zerschlissenen Schuhen lagerten. Ringsum dehnten sich
Felder, voll vom goldenen Segen des Korns, durchzirpt vom unaufhörlichen
Gesang der Grillen, und dunkelgrüne Sümpfe, ständig widerhallend vom
fröhlichen Lärm der Frösche. Vor den kleinen, grauen Fenstern, an denen die
Arbeiter saßen, mit großen, eisernen Harken das dichte Gestrüpp der
Borstenbündel unermüdlich kämmend und die trockenen Staubwölkchen
schluckend, die jedes neue Bündel gebar, schossen die hurtigen Schwalben
vorbei, tanzten die schillernden Sommerfliegen, schwebten weiße und bunte
Falter einher, und durch die großen Luken des Daches drang das sieghafte
Geschmetter der Lerchen. Die Arbeiter, die erst vor wenigen Monaten aus
ihren freien Dörfern gekommen waren, geboren und groß geworden im süßen
Atem des Heus, im kalten des Schnees, im beizenden Geruch des Düngers, im
schmetternden Lärm der Vögel, im ganzen wechselreichen Segen der Natur:
155
back to the
book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik