Page - 156 - in Radetzkymarsch
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Die Arbeiter sahen durch die grauen Staubwölkchen Schwalbe, Schmetterling
und Mückentanz und hatten Heimweh. Wenn die Lerchen trillerten, wurden
sie unzufrieden. Früher hatten sie nicht gewußt, daß ein Gesetz befahl, für
ihre Gesundheit zu sorgen; daß es ein Parlament in der Monarchie gab; daß in
diesem Parlament Abgeordnete saßen, die selbst Arbeiter waren. Fremde
Männer kamen, schrieben Plakate, veranstalteten Versammlungen, erklärten
die Verfassung und die Fehler der Verfassung, lasen aus Zeitungen vor,
redeten in allen Landessprachen. Sie waren lauter als die Lerchen und die
Frösche: Die Arbeiter begannen zu streiken.
In dieser Gegend war es der erste Streik. Er erschreckte die politischen
Behörden. Sie waren seit Jahrzehnten gewohnt, gemächliche Volkszählungen
zu veranstalten, den Geburtstag des Kaisers zu feiern, an den jährlichen
Rekrutenaushebungen teilzunehmen und gleichlautende Berichte an die
Statthalterei zu schicken. Hier und da verhaftete man russophile Ukrainer,
einen orthodoxen Popen, Juden, die man beim Schmuggel von Tabak
ertappte, und Spione. Seit Jahrzehnten reinigte man in dieser Gegend Borsten,
schickte sie nach Mähren, Böhmen, Schlesien in die Bürstenfabriken und
bekam aus diesen Ländern fertige Bürsten. Seit Jahren husteten die Arbeiter,
spuckten Blut, wurden krank und starben in den Spitälern. Aber sie streikten
nicht. Nun mußte man aus der weiteren Umgebung die Gendarmerieposten
zusammenziehen und einen Bericht an die Statthalterei schicken. Diese setzte
sich mit dem Armeekommando in Verbindung. Und das Armeekommando
verständigte den Garnisonkommandanten.
Die jüngeren Offiziere stellten sich vor, daß »das Volk«, das hieß die
unterste Schicht der Zivilisten, Gleichberechtigung mit den Beamten, Adligen
und Kommerzialräten verlangte. Sie war keinesfalls zu gewähren, wollte man
eine Revolution vermeiden. Und man wollte keine Revolution; und man
mußte schießen, ehe es zu spät wurde. Der Major Zoglauer hielt eine kurze
Rede, aus der all das klar hervorging. Viel angenehmer ist allerdings ein
Krieg. Man ist kein Gendarmerie- und Polizeioffizier. Aber es gibt vorläufig
keinen Krieg. Befehl ist Befehl. Man wird unter Umständen mit gefälltem
Bajonett vorgehen und »Feuer!« kommandieren. Befehl ist Befehl! Er hindert
vorläufig keinen Menschen, in Brodnitzers Lokal zu gehen und viel Geld zu
gewinnen. Eines Tages verlor der Hauptmann Wagner viel Geld. Ein fremder
Herr, früher aktiver Ulan, mit klingendem Namen, Gutsbesitzer in Schlesien,
gewann zwei Abende hintereinander, lieh dem Hauptmann Geld und wurde
am dritten durch ein Telegramm nach Hause gerufen. Es waren im ganzen
zweitausend Kronen, eine Kleinigkeit für einen Kavalleristen. Keine
Kleinigkeit für einen Hauptmann der Jäger! Man hätte zu Chojnicki gehen
können, wenn man ihm nicht schon dreihundert schuldig gewesen wäre.
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik