Page - 169 - in Radetzkymarsch
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liebt nicht leidenschaftlich, aber vielleicht auch nicht flüchtig. Er ist bereits so
unglücklich, daß man ihn höchstens nur noch glücklich machen kann.
Am nächsten Morgen erhielt Trotta drei Tage Urlaub »in
Familienangelegenheiten«. Um ein Uhr nachmittags verabschiedete er sich
von den Kameraden im Speisesaal. Er stieg mit Frau von Taußig, beneidet
und umjubelt, in ein Kupee erster Klasse, für das er allerdings einen Zuschlag
gezahlt hatte.
Als die Nacht einbrach, bekam er Angst wie ein Kind vor der Dunkelheit;
und er verließ das Kupee, um zu rauchen, das heißt: unter dem Vorwand,
rauchen zu müssen. Er stand im Korridor, erfüllt von verworrenen
Vorstellungen, sah durch das nächtliche Fenster die fliegenden Schlangen, die
aus den weißglühenden Funken der Lokomotive im Nu gebildet wurden und
im Nu verloschen, die dichte Finsternis der Wälder und die ruhigen Sterne am
Gewölbe des Himmels. Sachte schob er die Tür zurück und ging auf den
Zehen ins Kupee. »Vielleicht hätten wir Schlafwagen nehmen sollen!« sagte
die Frau überraschend, ja erschreckend aus der Dunkelheit. »Sie müssen
unaufhörlich rauchen! Rauchen dürfen Sie auch hier!« Sie schlief also noch
immer nicht. Das Streichholz beleuchtete ihr Angesicht. Es lag, weiß, vom
schwarzen, wirren Haar umrandet, auf der dunkelroten Polsterung. Ja,
vielleicht hätte man Schlafwagen nehmen sollen. Das Köpfchen der Zigarette
glomm rötlich durch die Finsternis. Sie fuhren über eine Brücke, die Räder
polterten stärker. »Die Brücken!« sagte die Frau. »Ich habe Angst, sie stürzen
ein!« Ja, dachte der Leutnant, sie sollen nur einstürzen! Er hatte lediglich
zwischen einem plötzlichen Unglück und einem langsam heranschleichenden
zu wählen. Er saß reglos der Frau gegenüber, sah die Lichter der
vorüberhuschenden Stationen sekundenlang das Abteil erhellen und das
bleiche Angesicht der Frau von Taußig noch blasser werden. Er konnte kein
Wort hervorbringen. Er stellte sich vor, daß er sie küssen müsse, statt etwas zu
sagen. Er verschob den fälligen Kuß immer wieder. Nach der nächsten
Station, sagte er sich. Auf einmal streckte die Frau ihre Hand aus, suchte nach
dem Riegel an der Kupeetür, fand ihn und ließ ihn einschnappen. Und Trotta
beugte sich über ihre Hand.
In dieser Stunde liebte Frau von Taußig den Leutnant mit der gleichen
Heftigkeit, mit der sie vor zehn Jahren den Leutnant Ewald geliebt hatte, auf
der gleichen Strecke, um die gleiche Stunde und, wer weiß, vielleicht im
selben Kupee. Aber ausgelöscht war vorläufig jener Ulan, wie die Früheren,
wie die Späteren. Die Lust brauste über die Erinnerung hin und schwemmte
alle Spuren fort. Frau von Taußig hieß Valerie mit Vornamen, man nannte sie
mit der landesüblichen Abkürzung Wally. Dieser Name, ihr zugeflüstert in
allen zärtlichen Stunden, klang in jeder zärtlichen Stunde ganz neu. Eben
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Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik